Von der Pflicht ein gutes Leben zu leben

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Von der Pflicht ein gutes Leben zu leben

 

Der indische Dichter und Mystiker Kabir (1440-1518) war von Beruf ein Weber gewesen. Trotz seiner Berühmtheit als erleuchteter Meister hatte er stets die Angebote seiner Schüler, für seinen Lebensunterhalt Sorge zu tragen, abgelehnt. Bis an sein Lebensende verdiente er sein Geld mit Weben. – In seinem letzten Gebet vor seinem Tod sagte er: „Gott, du hast mir einen wunderschönen Mantel gegeben. Jetzt lege ich ihn wieder ab und ich gebe ihn dir genauso zurück, wie ich ihn von dir erhielt“. Kabir hatte viele Gedichte und Lieder verfasst, in ihnen hatte er die einfache Sprache der Weber beibehalten. Deshalb konnte ihn auch das einfache Volk verstehen. Und es verehrt und singt seine Lieder noch bis heute. Mit dem „Mantel“ meint er den Körper, den die Seele von Gott für dieses irdische Leben erhält. Und er sagt, er hat ihn gepflegt, er hat dieses Geschenk in Ehren gehalten und kann es nach den vielen Jahren im gleichen Zustand zurückgeben, wie es ihm einst anvertraut wurde.

 

In diesem Gebet ist alle Weisheit enthalten. Mit diesem Gebet wird eine geistige Haltung besungen, die eigentlich jedem von uns tief verborgen innewohnt. Durch dieses Gebet wird das Grundgesetz des Lebens ausgesprochen. Dieses Leben, dieser Planet, unsere Fähigkeiten, unser scheinbarer Besitz, alles das ist uns von Gott zum Geschenk gemacht worden – und ebenso die Verantwortung dafür.

 

Das ist das Schöne am indischen Geist, er spricht, was gesagt werden muss, mit einem einfachen schlichten Satz aus, wie ein Vogel seine Melodie von den Zweigen des Baums herunter singt. Die Meister aus dem vorderen Orient hingegen packen gleich eine Moral hinzu, was die Sache schwer verdaulich und eigentlich unannehmbar macht. Jesus tut dies in seinen bekannten Gleichnissen vom "Sämann" und in dem von den "Drei Söhnen". Im ersten Beispiel wächst das ausgesäte Getreide nur, wo es auf fruchtbaren Boden fällt und verkümmert unter Disteln und auf Fels. Im zweiten Beispiel vermehrt der cleverste Sohn das vom Vater anvertraute Geld durch Verleih um ein Vielfaches; der scheinbar Untüchtige hingegen kann nach Ablauf der Zeit nur das vorweisen, was er ursprünglich erhielt. Jesus meint eigentlich das gleiche wie Kabir, doch der Zeigefinger ist unüberhörbar und unübersehbar.

 

Trotzdem nenne ich diesen Text „Von der Pflicht ein gutes Leben zu leben“. Viele Wörter unserer Sprache haben im laufe der Zeit ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und wurden vom jeweiligen Zeitgeist umgefärbt. "Pflicht" verbinden wir normalerweise mit dem unangenehmen Beigeschmack von einem "Müssen", dessen Grund wir nicht wirklich einsehen. Der etymologische Ursprung von „Pflicht“ ist aber „Pflege“. Kabir pflegte aus seinem angeborenen Naturell heraus den Mantel, den Leib, den er so heil und rein von Gott erhalten hatte, sein ganzes Leben lang, um ihn am Ende in gleicher Reinheit zurücklassen zu können. Es gibt die wissenschaftlich bewiesene Tatsache, dass einige Heilige einen unverweslichen Körper hinterließen, der sogar über Jahrhunderte unverändert blieb und noch bis heute von Pilgern betrachtet werden kann.

 

Was aber erhält den Körper rein und unverändert? Es ist ein Leben nach den universalen Gesetzen. Als Herodot, der griechische Geschichtsschreiber (485-425 v. Chr.), den König von Äthiopien befragte, warum die Menschen seines Volkes so kraftvoll und gesund seien und ein durchschnittliches Alter von 120 Jahren erreichten, erhielt er zur Antwort: „Weil wir nicht lügen“. Die universalen Gesetze muss uns kein Moses vom Berg Sinai herabholen, sie wohnen in uns und wir kennen sie ganz genau. Ein Weiser aus dem Stamm der Hopis beschrieb es einmal so: „Das Gewissen ist wie ein Dreieck in unserem Herzen. Wenn wir etwas Falsches tun, dreht es sich und die Ecken erzeugen einen Schmerz. Wird das widernatürliche Handeln aber zur Gewohnheit, bildet sich im Herzen eine Hornhaut und wir verspüren das Drehen jenes Dreiecks nicht mehr. Werden wir aber wieder sensibler, dann zeigt uns das Herz stets den richtigen Weg“.

 

Ein gutes Leben zu leben, betrifft zu allererst unser spirituelles Eingestimmtsein. Es betrifft unsere Verbundenheit mit der Schöpfung und dem Schöpfer. Je tiefer diese Verbundenheit ist, desto weniger Gesetze oder Gebote sind notwendig. Je weiter wir uns entfernt haben, desto mehr brauchen wir Anleitung und Hilfe von außen. Deshalb schreiben die Mystiker, die Propheten und die weisen Dichter ihre Verse. In ihnen erinnern sie uns an die Wahrheit, an die Schönheit, an die Reinheit unseres Ursprungs, an die Qualitäten unseres ureigentlichen Wesens. Es hilft nichts, diese Verse zu verehren und sonst im Regal zu belassen. Die Verse der Mystiker sind das Wasser des Lebens, sie wollen getrunken, das heißt verinnerlicht werden. Jedes Wort ist unendlich kostbar, ist ein Funke des Göttlichen. Weil sie wie unbezahlbare leuchtende Diamanten sind, können sie uns nur geschenkt werden. Doch wir glauben, was nichts kostet, habe auch keinen besonderen Wert. Es ist genau umgekehrt – wie alles in dieser verdrehten Welt. Je mehr Geld wir bezahlen müssen, desto mehr Hülle ohne Inhalt erhalten wir dafür.

 

Ein gutes Leben zu leben, betrifft unsere Art des Zusammenseins. Unsere Mitmenschen, ob Fremde, Nachbarn, Freunde oder Verwandte, sind Repräsentanten Gottes, sind letztlich wir selbst. Das Leben ist ein Fest und es gilt, die Kunst des Zelebrierens neu zu lernen. Die Begegnungen und Verbindungen, die Liebe, die Sexualität, das Essen und Trinken, die Tätigkeiten, das Ruhen, die Lebensabschnitte und -übergänge, auch das Leiden, auch der Schmerz wollen mit Seelentiefe bereichert und erfüllt werden. Daraus erwächst uns am Ende eine ungeahnte und unvergängliche Freude, die nicht etwa unter Mühen erworben wurde, sondern die wir wieder freigelegt haben und die uns die eigentliche und ursprüngliche Leichtigkeit des Seins bewusst macht. Ein gutes Leben ist ein bewusstes Leben, das alle Aspekte mit Liebe annimmt, das genießt und sich verschenkt, dass sich veräußern kann, weil es unablässig im Schoße des einen Schöpfers ruht. Nicht nur einem Kabir, einem Buddha, einem Jesus ist dieses Leben vorbehalten, es ist das Geburtsrecht von uns allen, das wir hier und heute antreten dürfen.

 

- Bhajan Noam -

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

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