Die Wirkung von Hatha Yoga auf die inneren Antreiber
Dies ist jetzt natürlich keine psychologische Sendung, wo es in Tiefenpsychologie hineingeht, sondern es geht hauptsächlich darum, warum Hatha Yoga wirkt.
Meine These ist, dass Hatha Yoga einen lehrt, sich z.B. von diesen inneren Antreibern zu lösen.
1.) Ich muss perfekt sein
Viele Menschen, die z.B. Sport treiben, wollen natürlich das, was sie machen, richtig machen. Sie wollen perfekt sein und von anderen als perfekt wahrgenommen werden und stehen dann unter Stress.
Im Yoga (zumindest im Yoga Vidya-Stil) lernst du von Anfang an: Schließe deine Augen – Spüre in deinen Körper hinein – Atme tief ein und aus.
Yoga ist kein Wettbewerb. Es geht nicht darum, irgendeine Haltung nachzuahmen, etwas Vollkommenes zu machen. Gerade im Yoga Vidya-Stil geht es auch nicht darum, irgendeine äußere Figur nachzuahmen. Wir sagen sogar, dass es die perfekte Asana nicht gibt. Auch ein Yogalehrer kann dir nicht sagen, ob du deine Asana richtig machst oder nicht. Dies ist ja auch der Grund, weshalb ich mich immer dagegen verwahre, dass wir 100 prozentige perfekte Hilfestellung geben müssen und zu sagen, genauso muss eine Asana genauso aussehen. Ein Yogalehrer, eine Yogalehrerin sollte nicht den Teilnehmern sagen „Du machst die Asana falsch“, sondern „Spüre in dich hinein. In der Vorwärtsbeuge sollte die Rückseite der Beine gedehnt sein und die Wirbelsäule und der Rücken sollten sich angenehm anfühlen. Spüre in dich hinein, ob es sich richtig anfühlt“. Es geht nicht um äußere Vollkommenheit.
Ich kenne Menschen, die gerade aus dem Vollkommenheitsanspruch eine Alles-oder-Nichts-Philosophie machen. Angenommen, sie fühlen sich morgens nicht so gut und sind ein bisschen müde – dann machen sie gar kein Yoga. Stattdessen könnten sie, wenn sie zu müde für den Sonnengruß sind, diesen überspringen und mit dem unterstützten Schulterstand anfangen. Oder wenn ich abends antriebslos bin, dann mache ich eben als Erstes die Tiefenentspannung und beginne erst danach mit dem Pranayama. Es geht also nicht darum, eine äußere Vollkommenheit zu haben, sondern es geht darum, zu spüren und zu fühlen und das zu machen, was geht. Du musst weder deinem Yogalehrer noch den anderen Teilnehmern der Yogastunde zeigen, dass du sehr gut oder vollkommen bist, sondern mache es so gut, wie du es jetzt kannst.
Meine These ist wiederum: Wenn du in der Yogastunde gelernt hast, Yogaübungen so zu machen wie du sie machen kannst, und dich dabei gut fühlst und merkst, ein großartiges Gefühl von Energie, Freude und Entspannung kommt gerade dann, wenn du nicht versuchst, vollkommen zu sein – dann überträgt sich diese Einstellung auch auf den Tag. Und du kannst auch feststellen: Auch in der Arbeit kann ich Dinge ruhig mal nur zu 80 % machen, ich muss nicht alles vollkommen machen. Es macht nichts, wenn andere sehen, dass ich etwas mal nicht so richtig gemacht habe.
Du kannst jetzt einen Moment überlegen, ob du diesen inneren Antreiber „Ich muss perfekt, vollkommen sein“ hast und überlegen, ob du vielleicht im Yoga selbst noch mehr einfach auf dich hören und entspannt sein kannst. Ich habe sogar schon Teilnehmerinnen geraten, die diesen inneren Antreiber sehr stark hatten, sie sollen ihre Übungen mal bewusst etwas falsch machen. Im Schulterstand die Fersen ein bisschen auseinander statt zusammen, um die Beine irgendwie zu entspannen. In der Entspannungslage statt der Handflächen nach oben eine Handfläche nach unten, oder ruhig mal den Kopf leicht nach rechts. Nicht so, dass es gefährlich ist (es gibt ja auch bestimmte Tipps, die Verspannungen vermeiden), sondern einfach mal lernen „Ich muss nicht vollkommen sein, ich mache es mal einfach so und bleibe dabei entspannt und dann ist es gut“.
2.) Alle müssen mich mögen
Es gibt viele Menschen, die – sowie sie mit anderen Menschen zusammen sind – immer überlegen: „Was denken die anderen Menschen über mich? Mögen sie mich? Sind sie kritisch zu mir?“ usw.
In der Yogastunde lernst du, einfach für dich zu sein. Du bist mit anderen Menschen zusammen, aber du überlegst nicht, was sie über dich denken. Denken sie, dass du zu gut, zu schlecht, zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein bist, zu liebenswürdig oder zu unliebenswürdig, zu schön, zu attraktiv, zu wenig schön, zu wenig attraktiv? Du überlegst auch nicht, ob du dem Yogalehrer gefällst usw. In einer Yogastunde legst du dich hin, du bist mit anderen Menschen zusammen, und dann bist du Du selber. Natürlich willst du jetzt auch nicht andere stören, indem du plötzlich aufspringst und tanzt und hüpfst, wenn gerade die Tiefenentspannung ist, natürlich gilt auch in einer Yogastunde das Prinzip der Rücksicht – du bist also nicht ganz für dich, aber trotzdem überlegst du nicht bei dem, was du in den Asanas machst, was andere dabei denken, wenn du das so und so machst. Du lernst, in deinen Körper zu spüren, du spürst deine Atmung, du fühlst was zu tun ist, und obgleich du mit Menschen zusammen bist überlegst du nicht, wie du auf andere wirkst. Oder ob das, was ich mache, meinem Yogalehrer gefällt oder auch nicht.
Wenn du Yogalehrende bist oder wirst, dann ist es auch immer wichtig, dass du so unterrichtest, dass deine Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht das Gefühl haben, sie müssen dir in der Yogastunde gefallen und sie müssen Asanas so ausführen, weil du es so willst, sondern du willst Teilnehmende dazu befähigen und sie in die Lage versetzen, auf sich selbst zu hören, entspannt mit anderen zusammen in der Yogastunde zu sein, ohne dabei zu überlegen „Gefalle ich den anderen?“
Wenn ein Mensch merkt, wie schön es ist, mit anderen zusammen zu sein, ohne ständig zu überlegen, was sie über mich denken – da ist dann wieder meine These: Das hat einen Transfer auch in den Alltag.
3.) Ich muss schnell sein
Im Yoga lernt man ja gerade „Ich muss nicht schnell sein“. Es geht hier nicht darum, schneller als andere den Sonnengruß zu machen. Der Sonnengruß ist ja nicht die aller langsamste Übung, aber auch nicht die schnellste. Wir kommen auch nicht besonders schnell in den Kopfstand, sondern wir gehen ruhig und bewusst in den Kopfstand.
Wir lernen, es ist etwas sehr Schönes langsam in die Stellungen zu gehen, sie ruhig zu halten, tief und bewusst zu atmen...
Das heißt nicht, dass du auch einmal schnell sein kannst. Es gibt ja auch schnelle Sonnengrüße, und es gibt auch Sonnengrüße mit Sprungvariationen, wie wir sogar auch bei Yoga Vidya haben. Es gibt natürlich auch im Alltag manchmal die Notwendigkeit, schnell zu sein. Aber es sollte kein Zwang sein, schnell zu sein. Manchmal ist es schön, langsam zu sein. Und in dem Menschen lernen, wie schön es ist, langsame Bewegungen zu machen, ruhig in einer Yogastellung zu sein und einen großen Nutzen zu haben gerade, indem man langsam ist, lernen sie auch, dass man auch am Tag langsam sein kann.
Der innere Antreiber „Ich muss schnell sein“ ist ja letztlich auch eine Art Fluchtmechanismus. Wenn Pferde nicht schnell genug sind, wenn der Tiger kommt, dann werden sie gefressen. Und so ist es auch eine Urangst, dass – wenn ich nicht schnell genug bin – ich gefressen werde. Manche Menschen haben diesen inneren Antreiber „Ich muss schnell sein“, und das ist verbunden mit Überlebensängsten. Wenn sie das Gefühl haben, sie hätten etwas nicht schnell genug gemacht, geraten sie überproportional in Stress.
In einer Yogastunde lernst du „Ich kann langsam sein“.
4.) Ich muss stark sein
Dieser ist ein wenig ähnlich zu „Ich muss perfekt sein“.
Hintergrund ist natürlich in der Natur: Schwache Lebewesen werden schnell gefressen. Oder in einer Horde von Menschen bekommt der Schwache am wenigsten zu essen, findet keine Partnerin, oder aber er wird eben vom Tiger gefressen. Die Angst, schwach zu sein, ist evolutionsbiologische also eine durchaus sinnvolle Angst.
Aber in der heutigen Zeit kann man sehr wohl schwach sein, und in der Yogastunde zeigst du dich eben auch als schwach. Es ist durchaus etwas Ähnliches wie „Ich muss vollkommen sein“. Du musst eben nicht vollkommen sein, und du musst auch nicht stark sein. Du kannst dir heute mal sagen, dass du die volle Heuschrecke heute nicht hinbekommst und du hebst nur ein Bein hoch. Und wenn ich zu müde bin, dann lass ich halt eine Yogastellung aus und mache stattdessen die Entspannung. Oder wenn ich heute Nackenprobleme habe, dann probiere ich eben nicht den Kopfstand, sondern mache stattdessen die Stellung des Kindes, oder vielleicht den Hund oder eine andere Stellung.
Ich kann schwach sein, ich kann meine Schwäche zeigen, und ich kann auch der Yogalehrerin sagen, dass ich vor Kurzem eine Erkältung hatte und deshalb heute einiges nicht machen kann. Leider kenne ich Menschen, die – wenn sie eine Verletzung hatten – wochenlang nicht in den Yogaunterricht gehen, weil sie sich eben nicht in ihrer Schwäche zeigen können. Du kannst auch mit einem gezerrten Knöchel Yoga machen, wenn du umgeknickt bist. Du wirst vielleicht den Sonnengruß nicht normal machen können oder manche Stehhaltungen nicht „richtig“ machen können, aber du kannst trotzdem 80 % oder 90 % machen. Und du wirst feststellen: Du zeigst dich in deiner Schwäche, du machst nicht alle Yogaübungen gut, andere sehen vielleicht sogar deine Verletzungen – und nichts Schlimmes passiert. Im Gegenteil, du bekommst Mitgefühl und du fühlst dich gut. In der Yogastunde zeigst du dich in deiner Schwäche, und du erfährst: Es ist etwas Schönes. Dies wiederum hilft dir, dass du dich von diesem inneren Antreiber „Ich muss stark sein“ (oder mindestens „Ich muss mich stark zeigen“) etwas löst.
Deshalb meine ich, dass die Übung von Hatha Yoga etwas ist, was dir hilft, nicht so schnell von Stress beeinflusst zu werden und eine innere Resilienz aufzubauen.
Im Hatha Yoga lernst du:
Du musst nicht vollkommen sein musst – du kannst etwas unvollkommen machen.
Du musst nicht so üben, dass es anderen gefällt – du kannst auf dich selbst hören.
Auch musst du nicht schnell sein, auch nicht schneller als die anderen – du kannst auch langsam sein und selbst in deiner Übungspraxis weniger üben als andere und langsamere Fortschritte machen.
Du musst auch nicht stark erscheinen, sondern du kannst dich auch in deiner Schwäche zeigen.
All das hilft dir, besser mit dir im Alltag umzugehen und dich von diesen inneren Antreibern zu lösen.
Jetzt habe ich natürlich erst einmal über Hatha Yoga gesprochen. Die ganze Themenreihe geht ja darum, warum Yoga wirkt. Es gibt so viele Yoga-Studien, die zeigen, dass Menschen, die Yoga üben, gesünder und psychisch stabiler sind als andere, dass sie mit schlimmen Lebensereignissen besser umgehen – da stellt sich die Frage, warum das so ist.
These 1: Yoga selbst ist Entspannungstechnik.
These 2: Yoga stärkt Einstellungen, die helfen, mit Stress besser umzugehen.
Mit anderen Worten: Die Übung von Hatha Yoga hilft der Resilienz, weil sie einen Transfer auf die gesamte Einstellung zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zum Leben hat.
(Fortsetzung folgt)
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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