Ich muss gerade daran denken, ich hatte vor Monaten eine Teilnehmerin, die mir sagte, sie sähe keinen Sinn in ihrem Leben. Ich kannte die Frau etwas, denn sie hatte schon viele Seminare bei mir gemacht. Dann war ich erst einmal etwas verdutzt und habe sie gefragt: Ich weiß doch, du hast zwei erwachsene Kinder, die beide engagiert im Job sind. Und ich weiß auch, dass du Lehrerin bist an einer Schule, wo du Yoga eingeführt hast und dass du dort auch in der Lehrerweiterbildung aktiv bist. Und ich weiß auch, dass du zusammen mit einem Mann in Teilzeit eine Yogaschule führst. Wieso erzählst du mir, dass du immer noch nach dem Sinn in deinem Leben suchst? Sie antwortete „Ja, das mache ich, aber ich suche nach dem Sinn, es muss doch irgendeine Vision geben, die übergeordnet ist.“ In diesem Fall habe ich gemerkt, dass sie ein zu hohes Anspruchsniveau hatte. Sie dachte, es muss doch eine Gotteserfahrung geben, Gott erscheint und sagt, was die übergeordnete Vision wäre. Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, hat sie darüber noch einmal nachgedacht und gesagt „Du hast ja recht, ich führe eigentlich ein höchst sinnvolles Leben. Ich habe zwei Kindern einen guten Start ins Leben gegeben, beide haben sie engagierte Berufe. Ich habe tatsächlich eine große Wirkung auf meine Schule, und in meinen Yogastunden berühre ich jede Menge Menschen, verhelfe jeden Tag ein paar Menschen zu körperlicher Entspannung, berühre sie im Herzen und habe einen Einfluss. Ja, mein Leben ist sinnvoll!“

In diesem Sinne: Sei dir bewusst, was du alles bewirkst, das hilft schon.

 

Der nächste Aspekt von „meaning“ ist, dass nicht nur das, was du tust, bedeutsam ist, sondern dass auch das, was außerhalb deiner Kontrolle ist, irgendwo sinnvoll ist – letztlich ein gewisses Vertrauen in das, was außerhalb der Kontrolle ist. Wenn man das Gefühl hat, dass man viele Dinge unter Kontrolle hat und ihnen nicht hilflos ausgeliefert ist, ist das zwar Stress-reduzierend, aber manches ist halt außerhalb der Kontrolle. Wir stolpern und brechen uns einen Arm. Ein Partner verlässt uns. Ein Unternehmen, in dem wir beschäftigt sind, geht pleite. Die Gesetzgebung ändert sich so, dass die Nische, die wir uns geschaffen haben, nicht mehr möglich ist. Jemand betrügt uns usw. All das haben wir nicht unter Kontrolle. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob das etwas ist, was wirklich Sinn ergibt. Wenn du dich mit yogischem Karma beschäftigst, dann weißt du natürlich: „Yoga sagt, dass hinter allem ein Sinn steckt.“ Der Sinn des Lebens ist nicht, dass alles einfach ist und dass uns alles, was wir tun, gelingt. Vom persönlichen Standpunkt aus ist der Sinn des Lebens, dass wir wachsen, und wir wachsen, indem wir Gelassenheit, Loslassen, Verhaftungslosigkeit und Geduld lernen.

 

Wenn du magst, könntest du jetzt wieder hier kurz unterbrechen und nachdenken oder aufschreiben zu Lebenssituationen, in denen Dinge über dich hereingebrochen sind: Habe ich daraus gelernt, habe ich mich gut entwickelt?

Das muss nicht heißen, dass du sagst: „Es war gut, dass dieser Mensch mich betrogen hat, oder dass ich beraubt wurde, oder dass mir Gewalt angetan wurde“. So weit musst du nicht gehen. Aber du kannst dich fragen „Welche psychische Entwicklung habe ich durch dieses Ereignis genommen, was mir sonst nicht möglich gewesen wäre?“

 

Ich kenne Menschen, die mir gesagt haben, dass sie Schlimmes erfahren hätten, was zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt hat. Dies führte dazu, dass sie kein normales Leben haben konnten, nicht langfristig bei einem Partner oder einem Beruf bleiben konnten. Aber es hat auch dazu geführt, dass sie ständig auf der Suche geblieben sind, dass sie nirgends ein Nest gebaut haben, dass sie ständig überlegt haben und deshalb sehr tief geworden sind und dass sie das Leben von einer tieferen Warte aus ansehen und sie deshalb sagen, dass es irgendwie sinnvoll war.

In diesem Sinne kannst du nachdenken. Es muss ja nicht das Allerschlimmste sein, um dir bewusst zu machen, dass die Ereignisse im Leben dir helfen, voranzukommen und dich zu entwickeln.

Selbst eigene Entscheidungen, die du getroffen hast und nicht mehr rückgängig machen kannst und wo du letztlich hilflos mit den Konsequenzen deiner eigenen Entscheidungen leben musst – auch hier kannst du Vertrauen haben. Letztlich bist du geführt worden zu Entscheidungen, die dann vielleicht zu großem Scheitern führten. Aber auch dieses Scheitern hat dir geholfen, dich zu entwickeln. Mache dir bewusst, dass Leben zur Entwicklung da ist, und letztlich ist Leben dazu da, Gott zu erfahren. Und dazu schenkt dir das Leben das, was du dazu brauchst. Manchmal wirst auch du dazu gebracht, Entscheidungen zu treffen, die dazu führen, dass dein bisheriges Leben kollabiert. Auch das ist gut. Denke darüber nach und überlege vielleicht auch, wie das, was jetzt gerade geschieht, hilfreich auf dem Weg meiner spirituellen Entwicklung sein kann. Wie kann das, was ich tue, hilfreich in meiner Persönlichkeitsentwicklung sein? Wie können die Dinge, die über mich hereingebrochen sind oder die vielleicht demnächst geschehen könnten, hilfreich sein, damit ich mich entwickle? Sieh so einen höheren Sinn in dem, was du tust und was geschieht, und habe Vertrauen, dass letztlich das Gute geschieht.

 

Übrigens: Wenn du dir mehr bewusst werden willst, was der Sinn des Lebens ist, was Ereignisse des Lebens zu bedeuten haben, was deine Aufgaben sind, dann kann es hilfreich sein, mal eine Woche Abstand vom Alltag zu haben und dabei in einer spirituellen Atmosphäre voller Energie zu leben, z.B. in Form einer Yoga-Ferienwoche in einem Yoga-Ashram, wo du auf ein neues Energieniveau kommst und dich mehr damit beschäftigst, dass hinter allem irgendwo ein höherer Sinn ist. Dann kommen dir manchmal intuitiv Erkenntnisse, warum das, was geschehen ist, gut ist, warum das, was du tust, gut ist. Und vielleicht auch die Erkenntnis, dass es trotzdem an der Zeit ist, mal etwas anderes zu machen, oder aber das, was du bisher machst, mit einer anderen Einstellung zu machen. Eine Woche in einem Yoga-Ashram kann einen tiefen Einfluss auf dein Leben haben.

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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