Sattva, Rajas, Tamas – Die Geschichte von Kain und Abel aus der Sicht des Yoga
Die Thora macht nur Aussagen – mal klare, einfach zu verstehende, mal solche mit verborgenem Sinn. Sie erklärt nicht, sie interpretiert an keiner einzigen Stelle. Erklärungen und Deutungen sind in der mündlich überlieferten Thora enthalten, die in Form des Babylonischen bzw. Jerusalemer Talmuds niedergeschrieben wurden. Ein in hohem Ansehen stehender Kommentator von Thora und Talmud ist der Raschi. Er lebte um die erste Jahrtausendwende in der Champagne und hatte an den Yeshivot in Mainz und Worms studiert. Diese waren damals die angesehensten Thora-Talmud-Schulen europaweit. In Worms am Rhein kann man noch heute, neben der restaurierten Synagoge und einer der ältesten Mikwen (Tauchbäder), das Raschi-Haus, das jetzt ein jüdisches Museum ist, besuchen.
Raschi interpretiert die Geschichte von Kain und Abel in der hier folgenden Weise. Ich habe seine Sprache nur ein wenig modernisiert, sowie einige Terminologien der Yogaphilosophie einfließen lassen.
Zu Beginn noch eine Anmerkung: Die Interpreten der Heili-gen Schriften nehmen kein einziges Wort der Thora wörtlich, alles geschriebene, von Gott an Moses gerichtete Wort hat für sie Symbolcharakter. So auch bei dieser Geschichte.
Deshalb muss zunächst mit der Bedeutung beider Namen begonnen werden. Kain heißt "Lanze", also ein kriegerischer (= rajasischer) Name, der für Kampf steht, für Emotionen, die rasch und ohne Überlegung in Taten, in Handlungen umgesetzt werden. Er steht für Reaktion – nicht für Reflektion. Kain war ein Bauer, war sesshaft, ein Grundbesitzer (Neigung zu Tamas = Trägheit, auch Unreinheit; hebr. tame „טמא“ = unrein). Abel hingegen war ein wandernder Hirte.
Abel bedeutet "Hauch" – vielleicht der Hauch, der als sanfte Melodie durch eine Flöte weht – oder auch "das Vergängliche". Das sagt uns, er war sich der Vergänglichkeit alles Irdischen bewusst – und er war im 'Einklang' mit dem Ganzen. Er war an keinen Ort und nichts Materielles gebunden. Er zog mit seinen Herden wie Wolken mit dem Wind mitziehen: vollkommen hingeben, sich hierhin und dorthin trei-ben lassend, an nichts haftend und nirgendwo verweilend.
Waren nicht alle großen, noch bis in die unsrige Zeit hinein leuchtenden Persönlichkeiten der Bibel Hirten gewesen! Die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob waren ihr ganzes Leben mit ihren Herden unterwegs. Abraham wurde in jungen Jahren von Gott aufgefordert, die Sesshaftigkeit zu verlassen und in das "Gelobte Land" zu ziehen, ein Symbol für spirituelles Aufwärtsstreben (Sattva = Reinheit; hebr. tahor „טהור“ = rein). Moses war Hirte der Herden seines Schwiegervaters Jethro, bevor ihn Gott zu seiner eigentlichen Bestimmung führte. Auch König David war als Jüngling ein Hirte gewesen. Sie alle hatten gelernt, wach und umsichtig zu sein. Ein Hirte ist der Wächter seiner Herde. Er wird fast zwangsläufig zu einem bewussteren Menschen. David wurde später zum König des Volkes Israel gekrönt, er war aber zugleich auch ein großer Musiker und Dichter, dessen Weisen bis heute von Millionen Gläubigen rezitiert und gesungen werden. Nur in der freien Natur und mit der Muße, die der Beruf des Hirten mit sich bringt, ist es möglich, nach und nach tiefer in das Wesen der Existenz einzudringen, ihre Melodien, die stillen Gesänge der Sterne, zu vernehmen und die Seele in jene Klänge mit einstimmen zu lassen.
Raschi sagt: „Die Erde wurde von Gott wegen der Schlange, wegen der Sünde verflucht. (Ein Bild dafür, dass jedes Verhaftetsein unserer Weiterentwicklung auf Dauer schadet, deshalb kennzeichnet es Gott mit bestimmten Hinweisen, die wir erfassen und nicht übersehen sollten)“.
Abel lebte, im Gegensatz zu Kain, nicht von der Bebauung des Erdbodens. Sein Lebensstil hatte bereits eine höhere Schwingung (Sattva). Und sein Opfer bestand aus dem besten von seinem für Gott geschlachteten Schaf: dem Fett. Kains Opfer hingegen war aus den Früchten eines geistig bindenden, versklavenden Erdbodens und er ergriff und opferte sie wahllos ohne Achtsamkeit, ohne Bewusstheit, mit einem trägen Geist (Tamas). Das machte sein Opfer – im Gegensatz zu dem Opfer seines Brudres, der ein klar und bewusst handelnder Mensch war (Sattva), der aus tiefer Verbundenheit und freudiger Dankbarkeit heraus gab – zu etwas trüb Mechanischem, nicht glanzvoll Herausgehobenem aus der Alltäglichkeit. Es war nicht wirklich von Herzen voll Ehrfurcht und in Demut geweiht – und damit für Gott unannehmbar.
Kain hatte sich selbst entfernt, hatte sich an die Trägheit und die Gelüste gebunden. Gott hatte ihn nicht abgelehnt, wie Gott niemals jemanden ablehnt. Wir sind es, die sich entfernen. Sobald sich Kain aber wieder Gott zuwandte (nachdem er Abel aus seinem rajasischen, von Neid und Eifersucht verblendeten Geist heraus getötet hatte), war auch Gott vollkommen auf seiner Seite. Er gab ihm ein Mal auf die Stirn (Tilaka), ein Zeichen das ihn schützen sollte vor der Verfolgung als Mörder, das ihn sogar als einen in besonderer Weise mit Gott Verbunden auswies.
Das alles tat Gott, obwohl Kain die Tat leugnete, d. h. weiterhin in seiner engstirnigen Welt verhaftet blieb. Erst als er die Gefahr spürte – und ist es nicht bei allen Menschen so, dass sie erst ein wenig aufzuwachen beginnen, wenn es irgendwie bedrohlich wird, wenn sie ein Schicksalsschlag ereilt, wenn sie eine Krankheit befällt, wenn der Tod vor der Tür steht, wenn ihnen ihr sündiges Leben nackt vor Augen geführt wird –, reagierte Kain, ging er auf Gott zu, zwar in klagender Weise und weiterhin ohne Entschuldigung für seine Tat, aber immerhin... er sprach Gott an. Und alleine das reichte Gott aus, um ihn wie einen verlorenen Sohn aufzunehmen und ihm erneut seinen vollen Segen zukommen zu lassen. Wir finden später ähnliche Erzählungen in der Bibel. Diese ist die erste und das Grundmuster dafür.
Kain steht für die Menschheit, so wie sie ist, die träge, unbewusste Masse. Nur ein Individuum, ein Abel, einer der nachdenkt, der zu meditieren beginnt, der aus der Masse heraustritt, der sich von den Fesseln der Welt löst, den es in die Einsamkeit zieht, der sich der Existenz ausliefert, der gefährlich zu leben beginnt, der erkennt, dass dieses Dasein in Wahrheit nur ein vergänglicher ‚Hauch’ ist, nur dieser Mensch entwickelt sich zu höheren Stufen, kommt ins Licht der Gnade, zeigt sich Gott, während Gott sich ihm zeigt. – Die Geschichte von Kain und Abel sagt uns, wir sind immer in der Gnade Gottes, sie wartet stets auf uns mit ihren Segnungen. Wir haben die beiden Möglichkeiten, uns auf sie zuzubewegen oder uns von ihr zu entfernen. Es bleibt in jedem Augenblick unsere freie Entscheidung: Leid oder ewige Wonne. OM TAT SAT.
Ein Hinweis:
Als authentische Bibelübertragung vom Hebräischen ins Deutsche empfehle ich "Die Heilige Schrift – übersetzt von Naftaly Herz Tur-Sinai“. Es gibt sie bei 'Doronia' oder man kann sie in jeder Buchhandlung bestellen. Der Textfluss ist nicht so glatt, wie wir es von der Luther-Übersetzung kennen. Und das ist gut so, man wird immer wieder gestoppt und zum Nachdenken, Verinnerlichen oder auch zu wiederholtem Lesen angeregt. Ganz davon abgesehen, dass man mit der Zeit die vielen teils gravierenden Übersetzungsfehler in den hier bekannten Ausgaben entdeckt.
DREI SEITEN, DIE DICH WACHHALTEN:
www.bhajan-noam.com/SATSANG
www.bhajan-noam.com/ESSENCE
www.bhajan-noam.com/CAFEKAILASH
Kontakt: www.bhajan-noam@gmx.de
***
Kommentare
P. S.: Lieber Basiro! Da ich gestern nur ganz knapp Zeit für eine Antwort hatte, stelle ich sie jetzt nochmals korrigiert hier rein. Dein zweiter Kommentar sagt mir allerdings, dass Du diese gar nicht wahrgenommen hast. Beide Kommentare sind nicht auf der Basis eines Austauschs geschrieben, sie beinhalten keine Anrede an mich und sind mir allgemein zu respektlos geschrieben, deswegen möchte ich es meinerseits jetzt einstellen. Hier ist nicht facebook oder ein ähnliches Blogformat. Ich schenke hier freimütig sehr viele Anregungen, die man annehmen und für sich nutzen kann. Man kann es natürlich auch sein lassen, jeder ist absolut frei. Antworten oder Fragen an mich kann ich nur annehmen und darauf eingehen, wenn ich ein Gegenüber fühle, das ebenfalls zum Annehmen und Zuhören gewillt ist, sonst ist das Ganze eine reine Zeitverschwendung - für beide. OM Shanti, Bhajan ***