„Langes Hoffen und Warten ängstigt das Herz; aber die Erfüllung der Sehnsucht ist ein Baum des Lebens.“ 13.12

 

© 2016 Kommentar: Bhajan NoamDie Zeit des Wartens auf ein ersehntes Ereignis empfindet jeder unterschiedlich. Einer durchlebt sie voller Ungeduld oder in Ängsten, ein anderer genießt sie und kostet ganz seine Vorfreude aus. Eine buddhistische Geschichte erzählt von zwei Schülern, die ihren Meister fragen, wann sie endlich die Erleuchtung erfahren. Zum ersten Schüler sagt der Meister, dass er noch sieben Inkarnationen abwarten müsse, bis er erleuchtet sei. Der Schüler ist vollkommen niedergeschlagen und frustriert. Zum anderen Schüler sagt der Meister: „Schau in diesen Baum unter dem wir sitzen, so viele Blätter, wie er hat, so viele Leben wird es noch dauern, bis du erleuchtet bist.“ Der Schüler springt auf und tanzt und freut sich unbändig. „Nur noch so wenige“, ruft er fröhlich und umarmt voller Dankbarkeit seinen Meister.

 

Dieser Spruch König Salomons will uns verdeutlichen, dass es uns oft an Vertrauen mangelt und dass wir mit der uns geschenkten Zeit nichts Sinnvolles anzufangen wissen. Warum warten wir auf etwas? Warten heißt, nicht im Augenblick zu sein. In diesem Augenblick ist alles vorhanden, in diesem Augenblick liegt aller Segen. Mit dem Warten begeben wir uns in eine Hilflosigkeit, in eine Abhängigkeit. Wir verlassen unsere Kraft und begeben uns ins Abseits. Jeder Augenblick ist das goldene Zentrum dieser Welt. In ihm herrscht pure Energie, in ihm liegt alle Weisheit, alle Lebendigkeit, in ihm sind alle Lösungen, alle Antworten parat. Warum verschwenden wir Zeit mit Gedanken an eine Zukunft, die noch gar nicht existiert? Warum verschwenden wir unsere kostbare Lebenszeit mit Nachgrübeln über eine Vergangenheit, die endgültig vorbei ist? Dieser Augenblick ist der Tempel Gottes, wenn wir bewusst sind. Hier ist alle wahre Sehnsucht längst erfüllt.

 

Im Namen vieler Menschen müssten wir nun fragen: „Ist Krieg der Tempel Gottes? Sind Elend und Hunger ein Segen? Ist Krankheit eine erfüllte Sehnsucht?“ Ein rational und logisch denkender Mensch wird laut aufschreien: Nein! Aber ist des Menschen Logik auch Gottes Logik? Irrt sich die Existenz? Sind die Kosmischen Gesetze falsch und verbesserungswürdig? – Ein alter aber noch sehr agiler Mann stürzte und erlitt einen komplizierten Beinbruch. Er kam ins Krankenhaus und die Ärzte sagten ihm, er würde nie wieder richtig laufen können, er müsste die meiste Zeit im Bett liegen. Das war ein großes Unglück für ihn. Doch er hatte einen spirituellen Meister, den er zu sich rief. Er sagte ihm: „Gib mir bitte deinen Segen, dass ich sterben kann. Ich will nicht mehr leben. Was ist das für eine Hölle, jahrelang nur im Bett zu liegen.“ Der Meister sagte zu ihm: „Probiere es mal mit einer kleinen Meditation.“ Doch der Kranke antwortete: „Ich kann nicht meditieren, ich bin viel zu unruhig und nervös.“ „Versuche es dennoch“, riet ihm der Meister, „sie ist ganz einfach. Schließe deine Augen und ich bringe dir eine Meditation bei. Wenn du sterben willst, gebe ich dir auch meinen Segen. Aber wer weiß, ob mein Segen funktioniert, und in der Zwischenzeit kannst Du meditieren. Gehe nach innen und schaue dir deinen Körper von innen an. Sage dir: ‚Das bin nicht ich, der Körper ist weit weg, weit weg. Ich bin der Wächter oben auf dem Berg, und der Körper ist dort unten im dunklen Tal. Die Entfernung ist riesig.’“ Der Meister saß neben ihm und wartete, was passieren würde. Er wollte ihn nicht stören, aber er musste gehen. Deswegen schüttelte er ihn sanft. Der Alte sagte: „Störe mich nicht!“ Der Meister antwortete: „Ich muss gehen.“ „Du kannst ja gehen“, sagte der Alte, „aber störe mich nicht, es ist so wunderbar. Mein Körper ist wirklich ganz weit weg. Ich habe ihn im Tal zurückgelassen und sitze oben auf dem Berg in der Sonne. Es ist so schön und ich fühle keinen Schmerz.“ Er war plötzlich ein ganz anderer Mensch geworden. Alle Ungeduld war von ihm abgefallen, jetzt strahlte er Glückseligkeit aus. Jetzt war die Krankheit kein Fluch mehr, sie war ein Segen. Leiden kann in einen Segen verwandelt werden. – Kabir singt: „Denke nicht, dass ich außerhalb der Stadt bin. Ich bin in Eurem Atem. Ich bin in Euch. Kabir sagt: Meine Freunde, hört mir zu! Das, wonach Ihr sucht, ist immer in Euch.“

 

In meinem Buch „Die Nacht mit Elia“ lasse ich Rabbi Telbach folgende Sätze sagen: „Kann ich heute das als Liebe betrachten, was ich zuvor für den größten Fluch hielt? Kann ich es jemandem erklären, der noch scheinbar unter diesem Fluch steht? – Das Böse ist in der Welt. Und das Böse wird nicht aus der Welt verschwinden. Aber für dich, in dir, kann sich etwas ändern, wenn du es durch den Filter ‚Vergebung’ hereinkommen lässt. Dann erkennst du auch im Bösen, auch im Dunklen das Licht. Wenn du zu fühlen beginnst, dass wir alle mit feinen Fäden verbunden sind und wenn du – mutig genug gegenüber dieser Wahrheit – das Böse auch  als einen Teil von dir zu akzeptieren vermagst, wenn du dir selbst dafür vergibst, wird der erste Weisheitsschimmer über dich kommen. Dann beginnst du zu fragen – und ich musste schmerzhaft mit diesen Fragen beginnen: Was ist mein Anteil an dieser Welt? Gebe ich Liebe oder trage ich meine Zweifel in sie hinein? Bringe ich Hoffnung, erzeuge ich Licht? Oder produziere ich Dunkelheit und Zerstörung mit meinem Geist?“ – Das sind die Fragen die das Sehnen in jedem von uns immer lauter werden lässt.

 

„ ... aber die Erfüllung der Sehnsucht ist ein Baum des Lebens.“ – Der Baum des Lebens setzt sich in der mystischen Lehre der Kabbala aus den zehn Sephiroth zusammen, den zehn Dimensionen der göttlichen Existenz, die sich zur Hälfte in „männliche“ und in „weibliche“ teilen. Zu jeder Sephiroth gehört einer der Namen und Eigenschaften für die mannigfaltigen Aspekte Gottes. Da der Mensch ein Abbild Gottes ist, befinden sich auch in ihm alle diese Aspekte – nur in noch unvollkommener Ausprägung. Seine Aufgabe und seine Sehnsucht, die ein Leben lang bestehen bleibt, ist es, sich zu vervollkommnen, sein Wesen in Harmonie zu bringen, Gott gleich zu werden und letztlich mit Gott zu verschmelzen. Das bedeutet aber, tiefer und tiefer in sein eigenes Herz einzutauchen, selbst in einer Welt voller Hass den fröhlichen Weg des Herzens zu gehen, die Welt des berechnenden Verstandes und der kalten Vernunft hinter sich zu lassen. Gott ist Liebe, seine Schöpfung ist Liebe. Um der Liebe Willen sind wir in diese Welt hinein geboren worden.

 

Liebe ist unser Ursprung, Friedfertigkeit ist der schmale Pfad, die Einheit mit dem Einzigen ist das Ziel, ist die Erfüllung der Sehnsucht, ist der Baum des Lebens, der nun – mit unserem Erkennen – reife, süß schmeckende Früchte zu tragen beginnt und sie mit allen teilt, die es wünschen.

 

 

- Bhajan Noam -

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

 

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