Die Erzählung meines Rabbi

© 2015 Bhajan Noam

Drei Jahre, bis zu seinem Tod, lernte ich bei meinem geliebten Rabbi Elieser, Gott habe ihn selig, in der goldenen Stadt Yerushalayim im Heiligen Lande. Etliche Geschichten voller Weisheit erzählte er mir in dieser für mich so bedeutsamen Zeit. An einen Tag und eine Erzählung voller Licht erinnere ich mich ganz besonders.

 

Da mein Rabbi von morgens bis tief in die Nacht hinein von Menschen aus allen Schichten und Weltgegenden konsultiert wurde, erlebte ich nur wenige private Momente mit ihm; um so mehr wusste ich diese wie seltene Perlen zu schätzen. Bei einer dieser Gelegenheiten, es war ein warmer Frühlingsabend und wir saßen einmal ungestört draußen auf der Terrasse, begann der Rabbi unvermittelt von sich zu erzählen. Und während er so intim sprach, klang es auf einmal ungewöhnlich unbeholfen. Die Worte schienen sich anfangs nur zögernd in Sätze formen zu lassen, so als müsse er nach jedem einzelnen in fernen  Erinnerungen suchen. Doch dadurch grub sich die Erzählung nur umso tiefer in mein Herz ein:

 

„Ich hatte mich jahrelang vollkommen aus der Natur herausgezogen; meine Welt war Gott, war das Bethaus, war die Thora. Ich wusste nichts über Pflanzen, über Tiere, über Berge und Flüsse, über  Jahreszeiten. Ich kannte nicht die Schönheit des Himmels, der Sterne bei Nacht, der Wolken-formationen und Sonnenuntergänge... Die Natur ist ungeheuer verletzlich. In der Natur erfährt man das Leben im einmaligen und niemals wiederkehrenden Augenblick. Sie ist stark und stolz und schön gerade durch ihre radikale Verwundbarkeit und rückhaltlose Lebendigkeit.“

 

„Ich erblickte einmal aus einem fahrenden Zug heraus auf einer Wiese ein grasendes Reh. Ich hatte noch nie zuvor ein Geschöpf in dieser Weise gesehen. Ich war erschüttert und plötzlich wie aus einem Dämmerzustand herausgerüttelt. Ich sah diese zarte Erscheinung und zugleich ihr Einssein mit der Unzerstörbarkeit einer Kontinuität: Gottes ewiger Schöpfung, die jedoch ebenfalls nur ein hauchfeines Gespinst aus Licht, aus Form und Farbe zu sein schien, ein illusorisches Sichereignen im ewig stillen Geist.“

 

Nach diesen Worten verharrte der Rabbi in langem Schweigen. Doch dann kam sein Mund plötzlich nah an mein Ohr und er sprach flüsternd und eindringlich: „Jenes Reh, verstehst du, war der Messias. Und er war auch die Wiese, der feine Dunst und die formende Luft. Er war der Bote, der meinem Zug entgegengeeilt und doch an dem Ort geblieben war, wo er immer ist. Der Messias, der Unbenannte, der Unfassbare, in Allem und ewig! – Deshalb brauchen wir nicht nach ihm zu suchen und auf ihn zu warten; und doch müssen wir auf eine Gnade in Zeit und Raum mit jeder Faser hoffen, auf ein Bild, auf ein Zeichen, das uns seine immerwährende Wahrheit offenbart.“ – Er lehnte sich zurück und schaute für eine kleine Weile in die Nacht hinaus, um dann mit warmer, fester Stimme fortzufahren: „Das ist das Paradoxe am Menschsein und der gesamten Schöpfung, was zugleich ihre einzigartige Existenz ermöglicht: ihre Hilflosigkeit in ihrer potentiellen Allmacht... Nur indem wir nicht denken, indem wir staunend und lachend darüber hinausgehen, sind wir wirklich!“  –

 

„Während ich dies alles erkannte, verstand mein Herz auf einmal, was mein Verstand zuvor nicht fassen konnte: den tiefen Sinn von Freundschaft, den Sinn der Liebe, von der geschlechtlichen Verbindung bis zur rein geistigen, spirituellen Begegnung hin – und die Leichtigkeit und Verspieltheit darin. Ich verstand die Wichtigkeit des Mitteilens und Zuhörens. Und mir erschloss sich der wahre Wert des Gebets.“  Damit endete er. Und wir saßen noch lange in stiller Beredsamkeit unter dem klaren Sternenhimmel, ohne die aus den Tälern heraufziehende Kühle als störend zu empfinden.

 

- Bhajan Noam -

 

Aus meinem Buch "Die Nacht mit Elia" 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

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