1. Vers

राजयोगपदं चापि लभते नात्र संशयः
कुम्भकात् कुण्डलीबोधः कुण्डलीबोधतो भवेत्
अनर्गला सुषुम्णा हठसिद्धिश् जायते ॥७५॥

 

rāja-yoga-padaṁ cāpi labhate nātra saṁśayaḥ… kumbhakāt kuṇḍalī-bodhaḥ kuṇḍalī-bodhato bhavet… anargalā suṣumṇā ca haṭha-siddhiś ca jāyate

rāja-yoga* : (des) königlichen Yoga; padaṁ : (den) Zustand („Ort“); ca : und; api : auch, sogar; labhate : er erlangt, erreicht; na : nicht; atra : hier (über); saṁśayaḥ : (besteht ein) Zweifel; kumbhakāt : aufgrund der Atemverhaltung; kuṇḍalī : (der) Kundali(ni); bodhaḥ : (erfolgt das) Erwachen; kuṇḍalī : (der) Kuṇḍaliṇī; bodhataḥ : aufgrund des Erwachens; bhavet : wird; an-argalā : frei (an-) von Hindernissen; suṣumṇā : (die) Sushumna ca : und; haṭha : (im) Hatha; siddhiḥ : Erfolg, Vervollkommnung; ca : und; jāyate : es entsteht

Und darüber hinaus erreicht [der Yogi] den Zustand des Raja-Yoga, darüber gibt es keinen Zweifel. Durch Kumbhaka wird die Kundalini erweckt und durch die erweckte Kundalini wird die Sushumna frei von Hindernissen und Vollkomenheit im Hatha-Yoga entsteht.

 

*Anmerkung: Zu einer Definition des Begriffes Rajayoga in diesem Zusammenhang vgl. die Anm. zu Kap. 4 Vers 103.

 

Hatha Yoga und Raja Yoga

Svatmarama schreibt:

Durch Pranayama erreicht der Yogi den Zustand des Raja Yoga, darüber gibt es keinen Zweifel. Durch Kumbhaka wird die Kundalini erweckt und durch die erweckte Kundalini wird die Sushumna frei von Hindernissen und Vollkommenheit im Hatha-Yoga entsteht.

Hier beschreibt er: Wozu Pranayama dient.

Wir befinden uns bei den letzten Versen des 2. Kapitels der Hatha Yoga Pradipika. Die letzten vier Verse sind ein Zusammenfassung: „Wozu wirkt Pranayama?“

Er will uns zum Schluss noch einmal motivieren. „Durch Pranayama wird Raja Yoga erreicht. Raja Yoga bedeutet die Fähigkeit, deinen Geist zu beherrschen.“

Raja heißt Herrscher. Raja Yoga wird manchmal gleichgesetzt mit Patanjali Yoga, der Yoga des Geistes. Zum Raja Yoga kannst du sagen: „Die Einheit erlangen durch Herrschaft über alles.“ Dieser Raja Yoga pada wird erreicht.

Man könnte diesen 75. Vers auf den 74. Vers beziehen, wo es um Kevala Kumbhaka geht. Zudem kann man sagen, dass sich der 75. Vers allgemein auf das bezieht, was das ganze 2. Kapitel beschrieben hat. Pranayama ist hier das Stichwort.

Durch Pranayama erreichst du den Zustand des Raja Yoga, eine Herrschaft des Geistes.

Dann sagt er weiter: Kumbhakat (durch die Atemverhaltung) entsteht Bodha (das Erwachen) der Kundalini. Aufgrund Bodhatah (des Erwachens) der Kundalini wird die Sushumna an-argala (frei von Hindernissen). Ca (und so) kommt dann Siddhi (Erfolg, Vervollkommnung) im Hatha Yoga, jayate (so entsteht) Erfolg im Hatha Yoga.

Übe Khumbaka, übe Pranayama. Das hilft dir deinen Geist zu beherrschen. Es erweckt die Kundalini, öffnet die Sushumna und alle Chakras. Damit erreichst du die Vollkommenheit.

 

  1. Vers

हठं विना राजयोगो राजयोगं विना हठः
सिध्यति ततो युग्मम् आनिष्पत्तेः समभ्यसेत् ॥७६॥

haṭhaṁ vinā rājayogo rāja-yogaṁ vinā haṭhaḥ… na sidhyati tato yugmam ā niṣpatteḥ samabhyaset

haṭhaṁ : (den) Hatha; vinā : ohne; rāja-yogaḥ : (der) königliche Yoga; rāja-yogaṁ* : (den) königlichen Yoga; vinā : ohne; haṭhaḥ : Haṭha; na : nicht; sidhyati : hat Erfolg, gelingt; tataḥ : daher, deshalb; yugmam : beide („als Paar“); ā : bis; niṣpatteḥ : zur Vollendung (des Rāja-Yoga); samabhyaset : man soll üben, praktizieren (sam + ahbi + as)  

Ohne Hatha-Yoga gelingt kein Raja-Yoga, ohne Raja-Yoga gelingt kein Hatha-Yoga. | Daher soll [der Yogi] beides praktizieren, solange er den Erfolg nicht erreicht hat.

 

*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda erklärt, dass hier (atra) unter dem Wort (Shabda) RajaYoga die im vierten Kapitel (ChaturthaUpadesha) gelehrt werdenden (vakṣyamāṇa) Techniken (Sadhana) zu verstehen sind, die in Form (Rupa) von UnmaniShambhavi Mudra usw. den ebenfalls als Rajayoga bezeichneten höchsten Zustand (Param Padam) herbeiführen: rāja-yoga-sādhane ‚tra rāja-yoga-śabdaḥ … rāja-yoga-sādhanaṃ caturthopadeśe vakṣyamāṇam unmanī-śāmbhavī-mudrādi-rūpam.

 

Hatha Yoga und Raja Yoga

Man kann nicht ohne Hatha Yoga Vollendung im Raja Yoga erlangen und umgekehrt. Deshalb sollte er beide erlangen bis er Vollkommenheit erreicht hat.

Hier sagt er:

Raja Yoga ist nicht möglich ohne Hatha Yoga, Hatha Yoga geht nicht ohne Raja Yoga. Übe beides zusammen. Hatha Yoga (Asanas, Pranayama usw.) und Raja Yoga (also Meditation, Ethik im Alltag usw.) sollten zusammen ausgeübt werden.

Im 1. Kapitel hat Svatmarama über Yamas und Niyamas gesprochen, im 4. Kapitel spricht er über Meditation. Du könntest sagen, dass Svatmarama eigentlich Raja und Hatha Yoga wiedergibt. Sicherlich ist Patanjali im Yoga Sutra sehr viel ausführlicher über die Techniken, wie du mit deinem Geist umgehst. Svatmarama sagt nur „Beachte die Yamas und Niyamas“, aber nicht wie du das machst. Patanjali beschreibt, welche Hindernisse auf dem Weg der Geistesbeherrschung auftauchen, wie du diese beherrschst, wie du Gründe des Leidens überwinden kannst und wie du ein ethischer Mensch wirst.

Es ist gut, zum einen an deinem Geist zu arbeiten und zum zweiten Hatha Yoga zu üben. Daher (tatah) übe yugma (beides). Übe so lange Hatha Yoga und Raja Yoga zusammen bis zu Nishpatti (zur Vollendung).

 

Eine Ergänzung:

Wann immer du Hatha Yoga übst, achte auf deinen Geist, übe eine sattwige Konzentration. Wann immer du Raja Yoga übst, achte auf deinen Körper. Du kannst in der Meditation bewusst gerade sitzen und auf deinen Atem achten. Im Alltag kannst du verschiedenen Atemübugen, Körperhaltungen, Entspannungstechniken und Mudras nutzen, um einen Einfluss auf den Geist zu haben. Beides zusammen wirkt besonders gut. Körper und Psyche hängen miteinander zusammen. Über deine Psyche beeinflusse deinen Körper und über Körperübungen beeinflusse deine Psyche. Wenn du an beidem parallel arbeitest, sind die Fortschritte besonders groß.

 

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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