1. Vers

यथा सिंहो गजो व्याघ्रो भवेद्वश्यः शनैः शनैः
तथैव सेवितो वायुरन्यथा हन्ति साधकम् ॥१५॥

yathā siṁho gajo vyāghro bhaved vaśyaḥ śanaiḥ śanaiḥ… tathaiva sevito vāyur anyathā hanti sādhakam

yathā : wie; siṁhaḥ : (ein) Löwe; gajaḥ : (ein) Elefant; vyāghraḥ : (ein) Tiger; bhavet : wird; vaśyaḥ : gehorsam, folgsam; śanaiḥ śanaiḥ : ganz langsam, ganz allmählich; tathā : so; eva : genau; sevitaḥ : behandelt; vāyuḥ : (der) Atem, Prana („Wind“); anyathā : anderenfalls; hanti : er tötet; sādhakam : (den) Praktizierenden

Ähnlich wie ein Löwe, Elefant oder Tiger sehr langsam gezähmt werden, | genau so gelangt auch der Atem unter Kontrolle. Ansonsten zerstört er den Yogi.

 

Svatmarama schreibt:

Wie wir Löwen, Elefanten und Tiger Schritt für Schritt zähmen, sollte Prana schrittweise unter Kontrolle gebracht werden. Ansonsten wird Prana den Yogi töten.

Dies ist eine radikale Ausdrucksweise, die er hier anbringt. Er will damit zur Vorsicht raten. Ich vermute, du hast nicht viel Erfahrung im Zähmen von Löwen, Tigern und Elefanten. Im alten Indien wurden diese wilden Tiere gezähmt und häuslich genutzt. Im 18. und 19. Jahrhundert haben die Engländer die Maharadschas zu Großwildjagden inspiriert und motiviert, um sie zu beschäftigen. In Indien sind die Löwen, Elefanten und Tiger weitestgehend ausgestorben. Ein paar wenige Elefanten und Tiger gibt es noch. Ob es noch Löwen gibt, weiß ich nicht. Bei dem Vorhaben, Wildtiere zu zähmen, würde man eine schrittweise Vorgehensweise bevorzugen. Dasselbe gilt für das Üben von Pranayama.

Wenn du noch nie Pranayama geübt hast, würdest du nicht gleich vier Mal am Tag zwei Stunden üben. Du würdest an die Atemübung schrittweise herangehen.

Ich denke und gehe davon aus, dass du schon Erfahrung mit Pranayama gesammelt hast. Eine Übertreibung sollte bei deiner Praxis nicht erfolgen. Ich denke, dass eher das Gegenteil bei modernen Aspiranten zutreffender ist. Es besteht weniger die Gefahr, zu viel Pranayama zu praktizieren. Die Gefahr ist viel größer, zu wenig Pranayama zu üben. Pranayama ist wichtig, übe es!

Nicht jeder ist geeignet für intensives Pranayama. Man kann sagen, Menschen brauchen eine gewisse psychische Stabilität, um intensiv Pranayama zu praktizieren. Eine gewisse Menge an Pranayama stabilisiert den Menschen. Das sind typischerweise 3 Runden Kapalabhati und 10-20 Minuten Wechselatmung. Diese durchschnittlichen Angaben sind für fast jeden Menschen geeignet. Es gibt für jeden Menschen eine treffende Übungsanleitung für seine individuelle Praxis. Unterschiedliche Variationen für Kapalabhati können für unterschiedliche Doshas zur Beruhigung gemäß dem Ayurveda zum Einsatz kommen. Deshalb kann man sagen, für jeden Menschen ist Pranayama geeignet. Wer müde ist, bekommt durch Pranayama mehr Energie. Bei Ängstlichkeit wird mehr Selbstvertrauen entstehen. Wer zu Ärger neigt, der wird mehr Ruhe im Geist bekommen. Bei einer relativ schnellen Mutlosigkeit wird durch Pranayama der Mut wieder eintreten. Psychisch instabile Menschen werden durch eine gewisse Menge an Pranayama seelisch stabiler werden. Wenn sie aber noch intensiver praktizieren, werden sie in Prozesse hinein katapultiert, die sie vielleicht allein nicht gut bewältigen können. Wenn du jemand bist, der durch längeres Pranayama in tiefer emotionale Prozesse gelangst, brauchst du entweder jemanden, der dir hindurch hilft, der dir rät, was zu tun ist und dich begleitet. Oder du beschränkst deine Menge an Pranayama darauf, welche dir hilft, zu einer Stabilität zu kommen.

Es ist eine schrittweise Herangehensweise. Im Laufe der Jahre wird Pranayama dir helfen, psychisch stabiler zu werden. Folglich kannst du deine Pranayamaübungen schrittweise erhöhen.

Wenn du zu der Kategorie von Menschen gehörst, die insgesamt einen stabilen Geist haben, wird es dir gelingen, mal vorübergehend in Prozesse hineingeworfen zu werden. Ein Auftreten von grundlosem Ärger, ein Verlassenheitsgefühl sowie in Ängstlichkeitsgefühle und in Kindheiteserinnerungen zu kommen, werden von Personen mit einem stabilen Geist gemeistert.

Du identifizierst dich dabei nicht. Du schaust es dir an und wiederholst ein Mantra. Du öffnest dich für die Segensenergie des Meisters und sprichst ein Segensgebet. Mit diesen Maßnahmen ist diese auftretende Sache überstanden und es kommt zur Auflösung. Die Unreinheiten der Nadis lösen sich durch Pranayama auf. Die psychischen Blockaden, welche ebenso Unreinheiten sind, lösen sich auf und verschwinden. Dies kann zum Teil ohne psychologische oder psychotherapeutische Arbeit erfolgen. Pranayama allein kann den Geist klären bei einer ganzen Reihe von Menschen.

Die Aussage, wenn man Pranayama nicht richtig übt, könnte es zum Tode führen, halte ich persönlich für eine übertriebene Darstellung. Mir ist kein Mensch bekannt, der durch Pranayama gestorben ist oder durch Pranayama Schaden genommen hat. Ich kenne Menschen, die beim Spazieren gestolpert sind und sich das Bein gebrochen haben. Ich kenne Menschen, die im Bett liegend einen steifen Hals bekommen haben oder einen Hexenschuss. Es gibt Menschen, die im Bett liegend einen Herzinfarkt haben. Mir ist  jedoch kein Mensch bekannt, der beim Pranayamaüben in ein ernsthaftes Problem gekommen ist.

Vielleicht ist meine Ansicht ein Widerspruch zu Svatmaramas Aussage. Meine Erfahrung besteht darin, dass Pranayama insgesamt segensbringend ist. Die Einschränkung gilt trotzdem. Menschen, die psychisch instabil sind, sollten die Menge an Pranayama finden, die sie stabilisieren. Eine Übertreibung ist hier unangemessen. Pranayama sollte zudem mit Asanas, mit Meditation und mit den fortgeschritteneren Techniken kombiniert werden. Zu den forgeschrittenen Pranayamatechniken zählen Übungen, in denen man Bhandas integriert. Du übst Pranayama mit Techniken von Uddhya Bhanda, Surya Bedha und Bastrika. Eine sattwige Ernährung zu beachten, ist in jedem Fall die Voraussetzung zu diesen fortgeschrittenen Praktiken.

Über weitere Gefahren des Pranayama spricht Svatmarama im nächsten Vers.

 

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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