Yoga ist ein optimales sportliches Training. Das ist ja eine übergeordnete These von mir. Und ich möchte eine Ergänzung machen.
Es gibt das allgemeine Anpassungsprinzip, das sich in der sportlichen Trainingslehre wie folgt darstellt. Der Mensch ist ein Organismus, der sich an die Herausforderungen der Umwelt anpasst.
Er kann dies machen entweder durch Hypertrophie, also durch Wachstum oder durch Atrophie, durch Verkümmern.
Mit anderen Worten eine Fähigkeit, die trainiert wird, entwickelt sich. Das ist dann Hypertrophie. Und eine Fähigkeit, die nicht trainiert wird verkümmert. Das ist Atrophie.
In einem engeren Sinne betreffen Atrophie und Hypertrophie Muskeln. In einem weiteren Sinne betrifft es alles, was den menschlichen Körper betrifft. Und den menschlichen Körper zeichnet es geradezu in besonderem Maße aus, das er sich an die verschiedensten Herausforderungen anpassen kann und das er verschiedenste Fähigkeiten trainieren kann.
Der Mensch kommt ja als unfertigstes Lebewesen auf die Welt. Er braucht letztlich zwanzig Jahre bis er anschließend seine optimale Leistung erreicht hat.
Das geht bei Pferden z. B. anders. Sie können nach ein paar Tagen nach der Geburt schon durch die Gegend galoppieren. Der Mensch braucht sehr viel länger. Und welche Fertigkeiten der Mensch dann tatsächlich entwickelt, hängt davon ab, welche gefordert werden.
Und so ist Yoga ein optimales Training um verschiedenste Fertigkeiten zu entwickeln. Man könnte sagen: Trainingsreize zu setzen, um vielerlei Fertigkeiten zu entwickeln, was zu Hypertrophie führt, Muskelwachstum, Dehnung des Bindegewebes, Verbesserung der Innervation, Verbesserung des Gehirns und vieles andere.
Und Yoga ist damit der Atrophie entgegengesetzt. Übrigens im Deutschen wird häufig von sogenannter Abnutzung gesprochen. Heutzutage leiden die wenigsten Menschen unter Abnutzungserscheinungen und sehr viel häufiger unter Atrophie wegen mangelnder Nutzung. Der Mensch nutzt sich nicht so schnell ab.
- B. kannst du dein ganzes Leben barfuß laufen und die Füße werden nicht abgenutzt sein. Das ist anders, wenn du den ganzen Sommer intensiv Fahrrad fährst. Nachher wird der Fahrradmantel durch gescheuert sein.
Im Gegenteil, wenn du barfuß die ganze Zeit gehst, wird die Haut an den Füßen dicker. Oder angenommen du fährst mit dem Fahrrad längere Zeit. Irgendwann wird es mit der Fahrradkette nicht mehr so gut sein oder Tretlager usw. Natürlich musst du dich darum kümmern. Aber es wird nicht durch intensives Nutzen des Fahrrades die Fahrradkette dicker werden und das Tretlager besser. Und du wirst auch nicht von heute auf morgen 20 zusätzliche Gänge haben.
Aber wenn du den menschlichen Körper benutzt, dann wirst du plötzlich viel schönere Gangarten haben können. Wenn du Tanzen lernst, dann wirst du plötzlich schöner tanzen können. Wenn du Hatha Yoga übst, kannst du plötzlich die tollsten Asanas usw.
Und die meisten Erkrankungen, die der Mensch hat, beruhen eben nicht auf Überlastung, sondern heutzutage auf Atrophie, zu weniges Nutzen der körperlichen Fertigkeiten.
Das Schöne am Yoga ist das du mit relativ wenig Aufwand die verschiedensten körperlichen und psychischen Fähigkeit trainieren kannst, und zwar in ausreichendem Maße, das es für die Gesundheit förderlich ist.
In diesem Sinne, wenn du irgend ein körperliches Problem hast, denke erst mal weniger in Richtung von Abnutzung oder Überlastung. Überlege mehr welche Yogaübungen müsste ich machen, um die körperlichen Fähigkeiten zu trainieren, damit der Körper nicht dieses körperliche Problem erzeugt.
Nehmen wir ein Beispiel. Angenommen du hast Handgelenk Probleme. Denke nicht als Erstes: Ich habe das Handgelenk überlastet durch zu viel Computerarbeit usw.
Es kann sein, dass es vielleicht gut ist, ein paar Tage lang nicht so viel zu tippen. Aber denke mehr daran, dass du vielleicht bestimmte Übungen nicht gemacht hast. Und vielleicht musst du ein Unterarmmuskel Training machen oder auch einfach sanfte Bewegungen in den Händen.
Es gibt z. B. bei Yoga Vidya auch Handgelenksübungen, die sowohl Krafttraining wie auch Dehnübungen und Bewegung sind.
Oder angenommen deine Knie tun weh. Ehe du denkst, dass du deine Knie operieren lassen musst, überlege als erstes: Habe ich genügend starke Oberschenkel Muskel. Wie könnte ich meinen Quadrizeps stärken? Und was könnte ich tun, dass die Gelenkschmiere in Gang kommt? Vielleicht über sanftes Fahrrad fahren oder auch auf dem Rücken liegend Fahrradfahr-Bewegungen machen für die Knie.
Oder angenommen du hast Probleme im Kreuzbereich. Anstatt zu überlegen, ob es vielleicht ein Bandscheibenvorfall ist, überlege wie kannst du die Rückenmuskeln stärken? Vielleicht brauchst du irgendetwas auch für die kleinen Gesäßmuskeln, das diese stärker werden.
Oder wenn du Halsprobleme hast, denke nicht gleich an Abnutzungserscheinungen, sondern überlege wie du die Halsmuskeln stärken kannst oder durch kleine Minibewegungen die Zwischenwirbelgelenke und die Zwischenzellräume irgendwie positiv beeinflussen kannst.
Also denke mehr in Richtung was könnte ich tun, um verlorene Fertigkeiten wiederzugewinnen durch gutes Training. Was könnte ich tun, um Anpassungsleistungen zu erzeugen, Hypertrophie im weiteren Sinne, die es braucht, dass der Körper wieder gesund ist?
Das waren also ein paar Anregungen zum Thema Hypertrophie und Atrophie, ein Thema das gerade im Hatha Yoga eine besondere Rolle spielt.
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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