Jetzt wozu überhaupt Flexibilität?
Warum Flexibilitätstraining? Zunächst einmal Flexibilität ist weithin praktisch. Es ist gut, wenn du dir die Schuhe binden kannst. Und so paradox das für dich klingt: Menschen, die im Erwachsenenalter Dehnübungen gemacht haben können auch eher in ihren 70ern und 80ern und 90ern selbständig ihre Schuhe binden oder auch selbständig ihre Zehennägel schneiden. Es ist also langfristig gesehen etwas sehr Praktisches seine Flexibilität zu trainieren.
Auch für vieles andere ist es leichter. z. B. Dinge von oben zu holen, wenn du flexibel bist. Auch z. B. “frozen shoulder” Syndrom und andere Dinge kommen seltener, wenn du an deiner Flexibilität gearbeitet hast.
In diesem Sinne Steifheit, die im Alter kommt, kommt erst später und nicht so stark, wenn du in der Jugend oder mittlerem Alter Flexibilitätstraining geübt hast.
Und so sind wir auch schon gleich beim nächsten. Flexibilitätstraining ist gut für die Gelenke. Für gesunde Gelenke brauchst du auch flexible Muskeln und flexible Bänder. Wenn du also langfristig weniger Gelenkprobleme haben willst, wenn du langfristiger weniger Gelenkschmerzen haben willst und auch deine Selbständigkeit behalten willst ist es wichtig schon im mittleren Alter an der Flexibilität zu arbeiten.
Als Nächstes die Verletzungsgefahr. Wenn du flexiblere Muskeln hast, sinkt die Verletzungsgefahr. Du bist weniger gefährdet, wenn du mal stürzt oder jemand dich in eine gefährliche Situation bringt.
Nächster Grund für Flexibilität sind die Venen und die Arterien. Wenn du Flexibilität trainierst, dann dehnst du ja den entsprechenden Muskel. Du dehnst aber nicht nur die Muskeln. Du dehnst aber auch die Arterien und die Venen. Menschen, die dehnen leiden weniger unter Arteriosklerose, weniger unter Bluthochdruck und auch weniger unter Krampfadern.
Wenn du also langfristig gesunde Venen und Arterien haben willst, ist Flexibilitätstraining sehr effektiv.
Ein weiterer Punkt ist auch Gesundheit der Nerven. Dehntraining heißt auch das die damit zusammen hängenden Nerven gedehnt werden. Und eine gewisse Dehnung der Nerven ist auch wiederum gut für die Gesundheit der Nerven. Auch die inneren Organe profitieren von Dehnung.
Wenn man z. B. den Halbmond macht, das heißt die Arme nach hinten gibt, werden die Bauchorgane gedehnt. Indem du die Bauchorgane dehnst, wird das venöse Blut aus den Bauchorganen abtransportiert.
Überhaupt durch Dehntraining wird das venöse Blut abtransportiert, wird die Zwischenzellflüssigkeit abtransportiert. Man kann sagen es ist wie eine Art Lymphdrainage, wenn du ein vollständiges Dehntraining machst. Das wiederum ist für alle Körpersysteme gut. Also der Abtransport von Stoffwechselprodukten geht leichter bei systematischen Dehntraining.
Also Arterien, Venen, Lymphe alle profitieren vom Dehntraining.
In den letzten Jahre gab es besonders viel Hype um die sogenannten Faszien, also das Bindegewebe. Faszientraining wird besonders populär.
Es gibt einige Studien, die z. B. nahelegen, das Rückenprobleme und andere chronische Schmerzen mit Problemen der Faszien zusammen hängen. Und da weiß man das die Faszien sehr davon profitieren, dass man sie dehnt. Dehntraining scheint also auch besonders wichtig zu sein zur Vorbeugung und zur Heilung von Rückenproblemen und anderen Gelenkproblemen und chronischen Schmerzen.
Also eine Menge von guten Gründen für Flexibilität. Und wir können auch zusätzlich sagen Flexibilitätstraining hilft auch der geistigen Flexibilität. So ähnlich wie Ausdauertraining auch der inneren Ausdauer hilft und allgemein der Psyche sowie Krafttraining auch dem Selbstbewusstsein hilft, so stärkt auch Flexibilitätstraining die Psyche und macht mich innerlich beweglicher.
Ja, jetzt wie ist ein optimaler Trainingsreiz beim Flexibilitätstraining? Zunächst einmal sollte man sich bewusst machen Flexibilitätstraining ist eine Funktion des Bindegewebes. Wenn wir also die Flexibilität eines Muskels erhöhen wollen, gilt es die Muskelfasern zu entspannen. Wenn du die Muskelfasern angespannt hast, dann kommst du nicht so ganz an das Bindegewebe ran. Und dann trainierst du höchstens die Muskelkraft aber nicht das Bindegewebe.
Und so gilt es die Muskelfasern zu entspannen und dann zu dehnen. Also ein Trainingsreiz für die Flexibilität eines Muskels muss beinhalten die Muskelfasern zu entspannen und den Muskel insgesamt zu dehnen.
Und so sagt man, ein Muskel sollte mindestens 20 Sekunden lang passiv gedehnt werden und dabei die Muskelfasern entspannt werden. Es gibt sogar eine Aussage das, je länger man einen Muskel dehnt, umso effektiver ist es.
So sagt man manchmal mindestens 20 Sekunden. Es gibt sogar die Aussage bis zu drei Stunden kann man es ausbauen. Interessanterweise gibt es ja auch im Hatha Yoga die Aussage Asana Jaya, die Herrschaft über die Asana wird erreicht, wenn man zwei bis drei Stunden in der Asana ist. Manche sagen zwei Stunden. Andere Schriften sprechen von drei Stunden.
Was heißt es also z. B. wenn du die vorwärtsbeugende Flexibilität trainieren willst, dann gehst du in die Vorwärtsbeuge hinein und hältst deinen Körper entspannt und hältst sie mindestens 20 bis 60 Sekunden.
Und wichtig ist dabei das du bewusst die Muskeln entspannst, die gedehnt werden. Je entspannter die Muskeln sind, die gedehnt werden, umso besser für die Flexibilität.
Es gibt dort zwei physiologische Muskelgesetze, die eine Rolle spielen. Das eine ist der Dehn-Anspann-Reflex. Und das andere ist der Dehn-Entspann-Reflex.
Ein Muskel, der ruckartig gedehnt wird, wird sich plötzlich anspannen. Was sehr sinnvoll ist, wenn du beispielsweise stürzt. Dann ist es wichtig, das nicht alles nur gegen das Bindegewebe geht, sondern die Muskelfasern müssen sich schnell zusammen ziehen und damit Verletzungen vermeiden. Und so gibt es den Dehn-Anspann Reflex.
Wird das Bindegewebe plötzlich gedehnt, spannen sich reflexartig alle Muskeln an. Das kann z. B. nachts zum Hexenschuss führen oder auch zum steifen Hals. Weil man irgendwo eine komische Bewegung gemacht hat im Traum oder so. Dann spannen sich ruckartig die anderen Muskeln an und zwar so stark, das es zum Krampf führt. Und dann dauert es ein paar Tage bis sich der löst.
Wenn du jetzt Hatha Yoga übst, ist es gerade für Anfänger wichtig, das du ganz bewusst und entspannt in die Übung hinein gehst.
Wenn Anfänger z. B. sich in die Vorwärtsbeuge bewusst hinein ziehen, machen sie weniger Fortschritte, als wenn sie entspannt in die Stellung hinein gehen. Sonst führt das zur Aktivierung des Dehn-Anspannung-Reflexes und die Aktivierung des Dehn-Anspann-Reflexes heißt dann nur, das du gegen den Widerstand der Muskelfasern ziehst, aber nicht richtig ans Bindegewebe ran kommst.
Oder auch für die meisten Menschen ist das Wippen in einer Stellung nicht hilfreich. Wenn du die Vorwärtsbeuge vor und zurück wippst, dann wird jedes Mal der Dehn-Anspann Reflex aus gelöst und damit dehnst du nur gegen den Widerstand der Muskelfasern und kommst gar nicht an das Bindegewebe heran.
Das führt übrigens auch zum sogenannten Dehnmuskelkater. Das heißt meistens das Muskelfasern Mikroverletzungen haben. Und das hat für die Dehnung wenig gebracht. Deshalb normalerweise durch das Dehnen bekommst du keinen Muskelkater, von kleinen Ausnahmen abgesehen. Sondern nur, wenn du beim Dehnen die Muskelfasern nicht ausreichend entspannt hattest. Dann entstehen kleine Mikroverletzungen, nichts Schlimmes. Aber jedenfalls solche, die dazu führen, dass die Flexibilität nicht entwickelt wird.
Also für die Flexibilität ist Wippen nicht besonders hilfreich. Und für Anfänger auch nicht hilfreich besonders intensiv in die Stellung hineinzugehen. Entspannung ist wichtig. Allerdings gilt für die Fortgeschritteneren, die gelernt haben ihre Muskeln in der Dehnung zu entspannen, das es schon wiederum von Vorteil ist zu ziehen, um weiter hineinzukommen.
Und hier sind wir nämlich beim nächsten Reflex, nämlich beim Dehn-Entspann-Reflex. Wenn du diese Texte als ganze verfolgst, hast du ja schon einmal gelesen: Unter den physiologischen Entspannungsgesetzen gibt es eines, das sagt ein Muskel, der mindestens 10 Sekunden lang passiv gedehnt wurde, entspannt.
Und so würde man sagen mindestens 10 Sekunden solltest du ganz entspannt in die Stellung gehen. Und wenn du merkst, dass dein Muskel entspannt ist und du innerlich entspannt bist und du ruhig tief atmen kannst und du kein Anfänger mehr bist, dann kannst du langsam auch etwas mehr in die Stellung gehen, indem du entweder mit deinen Händen ein bisschen ziehst oder eben mit dem Antagonisten dich etwas anspannst. Wenn du in die Vorwärtsbeuge gehst, könntest du die Bauchmuskeln, Psoasmuskeln, Quadrizeps etwas anspannen oder mit den Händen ziehen.
Also vermeide den Dehn-Anspann-Reflex. Nutze den Dehn-Entspann-Reflex. Dann hast du das effektivste Krafttraining.
Genau so gibt es auch den Berühr-Anspannungs Reflex und den Berühr-Entspannungs Reflex. Wenn ein wildfremder Mensch dich plötzlich berührt, dann wird der Flucht-Kampf Mechanismus aktiviert und der ganze Körper spannt sich an.
Wenn aber eine dir vertraute Person dich sanft berührt, z. B. dein Partner, deine Partnerin oder dein Kind, deine Mutter, dann wirst du entspannen.
Und darauf beruht ja z. B. auch die Massage. Dadurch das ein Masseur dich sanft berührt, wird insgesamt der Körper entspannt. Und wenn du das 20 bis 60 Minuten machst hat das insgesamt eine gute heilende Wirkung auf den Organismus. Man weiß sogar, das Massage hilfreich ist gegen Depressivität, Burnout und Angststörungen. Diese 20 bis 60 Minuten entspannte Berührung sind dort sehr gut. Es gibt ja auch das sogenannte Kuschelhormon, das dabei frei gesetzt wird. Natürliche Zärtlichkeit mit Partner könnten das auch gut ersetzen.
Ich hatte mal eine Bekannte meiner Familie als ich Kind war und Jugendlicher. Sie war Hausärztin und hat zu meinem Vater gesagt: Die meisten Erkrankungen ihrer Patienten würden gar nicht auftauchen, wenn einfach ein Partner den anderen eine viertel Stunde am Tag liebevoll in den Arm nehmen würde.
In einer Yogastunde werden wir nicht den anderen liebevoll eine viertel Stunde in den Arm nehmen. Aber die Yogalehrerin, der Yogalehrer kann sanft in die Stellung hinein helfen. Es gilt zu vermeiden, dass das für die Teilnehmerin, den Teilnehmer als bedrohend war genommen wird. Zumindest soll es sanft sein. Und bei Yoga Vidya in den Ausbildungen lernt man auch wie man das macht und vielleicht gibt es auch Menschen, die nicht berührt werden wollen. Die werden wir dann nicht berühren.
Wenn wir merken, dass Menschen, die wir sanft berühren entspannen und loslassen, kann man schrittweise etwas mehr in die Stellung hinein helfen. Und das ist ja auch ein Grund weshalb Yoga Vidya Bodywork oder die Yoga Vidya Partnerasanas oder das Partner Yoga Faszien Training so effektiv sind. Der Berührung-Entspann Reflex wird aktiviert. Und dann kommt man besser an das Bindegewebe heran.
Gut, jetzt weißt du einiges über den idealen Trainingsreiz für Flexibilitätstraining, also mindestens 20 Sekunden gleichmäßige Dehnung. Kein Wippen und das so machen, dass der Muskel dabei entspannt ist. Für Anfänger heißt es passive Dehnung. Für den Fortgeschrittenen heißt es mindestens 10 Sekunden lang erst mal ganz entspannt. Dann schrittweise weiter gehen und dich darum bemühen, dass die Muskelfasern nicht gegen halten.
Zusätzlich effektiv ist es, wenn du im Laufe der Zeit stärker ziehst oder wenn ein Anderer dich stärker in die Stellung hinein drückt und du dabei ganz entspannen kannst.
(Fortsetzung folgt)
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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