Avidya und Viveka

Kommentar 24-28 Vers des 2. Kapitels des Yoga Sutras von Patanjali

Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit den Fragen:

  • Was ist die Ursache von Identifikation?
  • Was ist die Ursache, dass du in dieser Welt leidest?
  • Und wie kommst du da heraus?

Patanjali schreibt:

  1. Vers: Die Ursache der Verbindung zwischen Purusha und Prakriti ist Avidya (Unwissenheit).

Warum bist du in dieser Welt? Warum identifizierst du dich mit Körper und Psyche? Aus Avidya – Unwissenheit.

  1. Vers: Durch das Überwinden der Unwissenheit verschwindet die Verbindung von Purusha und Prakriti und der Sehende erreicht die Befreiung.

Wie kommst du also aus der Begrenztheit dieser Welt heraus? Durch Überwinden der Unwissenheit. Dadurch hört die Identifikation von Purusha mit Prakriti auf und du erreichst Kaivalya – Befreiung.

  1. Vers: Das Mittel, Avidya zu überwinden, ist Vivekakhyati – ungebrochenes Unterscheidungsvermögen.

Viveka bedeutet Unterscheidung. Khyati heißt Grundeinstellung, tiefe Erkenntnis oder auch Begreifen. Vivekakhyati ist also die Grundeinstellung von Unterscheidungskraft. Viveka ist ein wichtiger Begriff sowohl im Yoga Sutra als auch im Jnana Yoga. Das wichtige Werk Viveka Chudamani (Kronjuwel der Unterscheidung), in dem Shankara in 581 Versen beschreibt, zeigt besonders deutlich wie man die Viveka nutzen kann.

  1. Vers: Erleuchtung wird in 7 Stufen erreicht.
  2. Vers: Durch die Übung der verschiedenen Stufen des Yoga verschwinden wir die Unreinheiten. Das Licht des Wissens erstrahlt und es entsteht ununterbrochenes Unterscheidungsvermögen – Vivekakhyati.

Aus der Unwissenheit heraus kommen – durch Vivekakhyati

Die Logik dieser Verse beschreibt das Konzept des Ganzheitlichen Yoga. Wie in einem vorherigen Vortrag erwähnt, macht es durchaus Sinn, dass der Sehende sich  zunächst identifiziert. Dadurch machen wir Erfahrungen, wir lernen etwas, wir bewirken etwas, wir entfalten etwas. Und sich all das bewusst zu machen führt uns zur Befreiung. Nur sollten wir uns nicht damit aufhalten, viel zu bewirken und viel zu entfalten, viel zu erfahren und neues zu lernen. Wir sollen bewusst daran arbeiten, aus der Unwissenheit heraus zu kommen.

Wenn du ins Kino gehst, um etwas zu erleben, weißt du, dass du nicht der Schauspieler, die Hauptperson auf der Leinwand bist. Oder im Theater magst du dich identifizieren mit Mutter Courage oder Wilhelm Tell, aber du weißt, du bist es nicht. Aber in dieser Welt, wo du Dinge zu erfahren hast und wo du auch Dinge bewirken sollst und das Ganze in einer Rolle, identifizierst du dich damit. Also geht es genau darum, sich von dieser Identifikation zu lösen und damit aufzuhören, in der Unwissenheit zu versinken. Wie kommst du also aus der Unwissenheit heraus? Indem du Vivekakhyati übst, immer wieder.

Unterscheidungskraft

Unterscheidungskraft wird auch von Shankara genauer beschrieben. Er bezieht sich im Viveka Chudamani häufig auf Patanjali und das Yoga Sutra. Er nennt dort die

Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst (Atma – Anatma). Mache dir immer wieder bewusst: „Ich bin nicht der Körper, ich bin nicht die Psyche und auch nicht das Prana. Ich bin weder  meine Rolle noch meine Arbeit, nicht meine Kinder, meine Frau, meine Yogagemeinschaft usw.“ Viveka  - Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst.

Unterscheidung zwischen Ananda und Sukha – große Freude und kleines Vergnügen. Renne nicht kleinen Vergnügungen hinterher, sie bringen dich in Duhkha (Schmerz), sondern suche Ananda, die große Freude des Selbst.

Unterscheidung zwischen Nitya und Anitya, dem Ewigen und dem Vergänglichen. Verhafte dich nicht ans Vergängliche und erwarte nicht, dass das Vergängliche dir ewige Freude gibt. So vieles vergeht. Lass es vergehen. Das Ewige ist deine wahre Natur.

Unterscheidung zwischen Sat und Asat, dem Wirklichen und dem Unwirklichen. Die relative Welt ist nicht wirklich. Sie ist wie ein Traum, wie ein Schauspiel, wie ein Improvisationstheater oder wie eine Computeranimation. Du bist zwar hier in dieser Welt, so ähnlich wie du vielleicht in eine Computerwelt eintauchst. In der Computerwelt kannst du dir einen sogenannten Avatar zulegen, aber du wirst nicht zu dem Avatar im Computerspiel.  Genauso bist du das unsterbliche Selbst und du wirst nicht zum Körper, selbst wenn du das denkst.

Dauerhafte Unterscheidungskraft erlangen

Vivekakhyati heißt, sich diese Dinge immer wieder bewusst zu machen. Die obigen Verse sind im Prinzip Jnana Yoga Verse. Bevor du denkst, Patanjali hat gesagt „Es gibt einen Sinn in dieser Welt, es gibt den 5fachen Sinn im Leben“. Bevor du denkst und deshalb muss ich intensiv handeln, ich muss meine Kräfte entwickeln und intensiv erleben usw.

Patanjali sagt auch: „Auf der einen  Seite mag das sein. Langfristig aber löse dich davon. Entwickle Vivekakhyati – dauerhafte Unterscheidungskraft.“

Aber wie kommst du zu dieser Unterscheidungskraft? Das ist nicht so einfach. Es sei denn du übst wirklich Vivekakhyati, dann kommst du zur Befreiung. Aber viele Menschen können eben nicht Khyati (dauerhaft) diese Grundeinstellung von Viveka pflegen.

Daher sagt Patanjali im 28. Vers: „Durch die Übung der verschiedenen Stufen des Yoga verschwinden die Unreinheiten. Das Licht des Wissens erstrahlt und es entsteht Vivekakhyati.“

Stufen des Yoga üben

Wenn es dir also nicht möglich ist, aufzuhören dich zu identifizieren und zügig die Gottverwirklichung zu erreichen, dann übe die Stufen des Yoga:

  1. Yama
  2. Niyama
  3. Asana
  4. Pranayama
  5. Pratyahara
  6. Dharana
  7. Dhyana
  8. Samadhi

(Über diese Stufen spricht Patanjali dann ab Vers 29.) Sie helfen, Unreinheiten zu überwinden. Das ist gut für den Körper, gut fürs Prana, gut für die Psyche, denn du reinigst dort alles. Und dann kommt Jnana Dipti, das heißt Wissen fängt an zu leuchten. Wenn du intensiv übst, kommt plötzlich ein intuitives Wissen, es strahlt und leuchtet. Und dann kommt Vivekakhyati, du weißt wer du wirklich bist und kannst alles andere loslassen.

Kurze Zusammenfassung des 2. Kapitels bis Vers 28

Übe Kriya Yoga

Übe Tapas – spirituelle Praxis

Übe Svadhyaya (Introspektion), lies die Schriften, lies Bücher großer Meister.

Gib dich Gott hin (Ishvara Pranidhana), bitte Gott um Führung, widme alles Gott. So überwindest du die 5 Kleshas:

Überwindung der 5 Kleshas

Sei dir bewusst: Alles Leiden kommt aus den Kleshas. Um die Kleshas zu überwinden, werde dir zunächst über diesen Prozess bewusst. Jedes Mal wenn du leidest mache dir bewusst, wo du dich identifiziert hast, wo ein Wunsch war, wo eine Abneigung war, welche Ängste das berührt hat. Dann kannst du lernen loszulassen. Und übe spirituelle Praktiken, insbesondere die Meditation, das hilft dir langfristig, dich von den Kleshas zu lösen.

Die 5-fachen Untergesetze des Karmas

Was ist der Sinn des Lebens? Warum geschieht, was geschieht? Es gibt die 5fachen Untergesetze des Karmas:

  1. Gedankenkraft
  2. direkte Gesetze
  3. Kompensation
  4. Evolution
  5. Gnade

Verhalte dich so, dass du gutes Karma erzeugst. Noch besser erzeuge gar kein Karma. Denn Karma kommt dann, wenn du aus den Kleshas heraus handelst. Wenn du dich nicht identifizierst, nicht aus persönlichen Wünschen heraus handelst, nicht aus persönlichen Ängsten oder Emotionen, dann schaffst du kein neues Karma. Dann musst du nur das bisherige Karma ernten.

Der 5-fache Sinn im Leben

Und was auf dich zukommt, hat einen 5-fachen Sinn. Der Sinn des Lebens ist nicht, dass du glücklich wirst durch die äußeren Dinge. Denn durch verschiedene Gründe führt alles, was äußerlich passiert, zum Leiden, wenn du dich damit identifizierst. Deshalb erwarte vom Äußeren kein Glücklichsein. Denke nicht, dass du glücklich wirst, wenn du den richtigen Menschen findest, die richtige Arbeit, Leute sich richtig verhalten dir gegenüber, oder du genügend Geld hast, das richtige Haus usw. In dieser Welt „Sarvam duhkham vivekinah“ hat Patanjali gesagt. Das Äußere ist immer Grund für Leiden. Glück ist nicht der Sinn der Welt. Dinge geschehen wegen des 5-fachen Sinns im Leben:

  • damit du die richtigen Lektionen erhältst, um spirituell zu wachsen
  • damit du lernst
  • damit du Erfahrungen machst
  • damit du etwas bewirkst
  • damit du deine Kräfte entfaltest

Deshalb überlege, was auch immer kommt, was kannst du daraus lernen? Du kannst überlegen: Wie hilft mir das für die Erleuchtung? Welche intensive Erfahrung mache ich dabei? Wie kann mir das helfen etwas zu bewirken? Welche Kräfte und Fähigkeiten sollte ich entfalten oder in anderen wertschätzen oder in der Natur bewundern?

Aber bleibe auch dort nicht haften. Denn die Identifikation damit führt letztlich auch wieder zu Leid. Überwinde die Identifikation durch Vivekakhyati, dauerhafte Unterscheidung, und damit dir das gelingt, übe die verschiedenen Yogapraktiken. Die Yogapraktiken überwinden die Unreinheiten auf allen Ebenen, körperlich, energetisch und psychisch. Und sie helfen dir, das Licht des Wissens zu erlangen, dauerhafte Unterscheidung zu praktizieren und dann Kaivalya – Freiheit zu erlangen.

Dieser Vortrag bildet den Abschluss der Reihe zum Yoga Sutra im Rahmen der Raja-Yoga-Reihe und ist damit Teil der ganzheitlichen Yoga Vidya Schulung.

Natürlich solltest du nicht nur die Vorträge lesen, sondern auch Asana, Pranayama und Meditation üben.

Mehr zu diesen und anderen Kommentaren findest du in meinem Buch „Die Yoga Weisheit des Patanjali für Menschen von heute“. 

 

Seminare zum Thema Yoga Sutra findest du bei Yoga Vidya. Es gibt auch eine 9tägige Weiterbildung zum Thema Raja Yoga. Es gibt Wochenendseminare zum Raja Yoga 2. Dort kannst du mehr lernen zum 2. Kapitel vom Yoga Sutra. Oder du kannst auch eine Yogalehrerausbildung bei Yoga Vidya machen.

___

Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

E-Mail an mich, wenn Personen einen Kommentar hinterlassen –

Sie müssen Mitglied von Yoga Vidya Community - Forum für Yoga, Meditation und Ayurveda sein, um Kommentare hinzuzufügen.

Bei Yoga Vidya Community - Forum für Yoga, Meditation und Ayurveda dabei sein