YVS103 Yama: Ethik im Umgang mit anderen

Dieser Text baut auf den vorangehenden Text über die Ashtangas, die acht Stufen im Yoga, auf. Diese sind Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi. Yama und Niyama werden allgemein als die Ethik verstanden. Yama ist insbesondere die Ethik im Umgang mit anderen Menschen.

Warum sollte man ethisch sein?

Es gibt unterschiedliche Begründungen für die Ethik.

Manche Religionen sagen: „Sei ethisch, dann wirst du von Gott belohnt und kommst in den Himmel. Wenn du unethisch bist, wirst du bestraft, bekommst schlechtes Karma oder kommst in die Hölle.“

Andere sagen, dass es wichtig ist, ethisch zu sein, da es in der Gesellschaft sonst drunter und drüber geht. Es gibt den Gesellschaftsvertrag, ein unbewusster Vertrag.

Die Menschen müssen sich an die ethischen Prinzipien halten, und Gesellschaften haben Sanktionierungsmechanismen . Der Mensch hat dies irgendwo internalisiert. Er möchte letztlich aus Angst vor Bestrafung ethisch sein.

Zudem gibt es Ethiken mit einem negativen Menschenbild. Danach heißt es, dass der Mensch der Wolf des anderen Menschen sei. Deshalb sollte man ein starkes Ethiksystem haben, um den Menschen davon abzuhalten, anderen zu schaden oder sie gar umzubringen.

Die moderne Evolutionsbiologie hat ein positiveres Menschenbild. Es besagt, dass Ethik und Kooperation das sei, was den Menschen am meisten auszeichnet.

Immer wenn Menschen mit anderen Menschen zusammen sind, kooperieren sie mehrheitlich und bemühen sich um positive Beziehungen.

Die meisten Menschen fühlen sich am besten, wenn sie harmonisch mit anderen sind.

Die meisten Menschen, die Unethisches tun, müssen irgendwo Angst haben, gestört oder krank sein. Deshalb würde ein evolutionsbiologischer Ansatzpunkt lauten: Menschen sind deshalb ethisch, weil sie evolutionsbiologisch darauf getrimmt sind.

Ein anderer Ansatz ist der von Aristoteles, der große Ähnlichkeit mit dem des Yoga Sutra von Patanjali hat.

Aristoteles hat das wichtige Werk „Die Nikomachische Ethik“ geschrieben. Dort hat er gesagt, dass es für ein gutes und glückliches Leben die Ethik braucht. Menschen, die glücklich sein wollen, sollten ein ethisches Leben führen. Der Philosoph sollte ein ethisches Leben führen. Ein Philosoph ist ein „Freund der Weisheit“. Wer weise sein will und die Dinge verstehen möchte, muss ein ethisches Leben führen. Wer unethisch ist, wird sich nicht der Wahrheit annähern können.

Der Ansatz von Patanjali ist sehr ähnlich. Patanjali sagt im 2. Kapitel, wo er über die Yamas spricht: „Wer ein unethisches Leben führt, dessen Leben wird voller Leid sein und der wird in Unwissenheit gefangen sein.“ Daher ist es ratsam, ethisch zu leben.

Wenn du glücklich sein willst, führe also ein ethisches Leben. Hier überschneiden sich der evolutionsbiologische Ansatz, der von Aristoteles und der von Patanjali.

Dies kann ein Trost sein. Manchmal scheint es, als ob Menschen, die lügen, betrügen und andere wegschieben, erfolgreicher sind. Aber sie sind nicht glücklicher. Möchtest du glücklich sein, dann lebe glücklich. Patanjali sagt, wer unethisch ist, bleibt in Avidya, der Unwissenheit. Wir wollen zu Vidya, zur höchsten Weisheit kommen. Wir wollen zur Gottverwirklichung kommen. Wir wollen herausfinden, wer wir wirklich sind. Vedanta im Raja Yoga sagt: „Es gibt ein Bewusstsein überall, ein unendliches Ewiges. Dieses unendliche Ewige willst du erfahren. Wenn du das erfahren willst, geht es darum, ein ethisches Leben zu führen. Wenn du die Einheit erfahren willst, geht es nicht, dass du anderen wegnimmst, was ihnen gehört, dass du Lebewesen tötest und so weiter.“

In diesem Sinne ist ein ethisches Leben notwendig, wenn du die Gottverwirklichung erreichen willst.

Patanjali erwähnt das Gesetz von Karma. Er sagt, dass die Frucht des guten Handelns etwas Angenehmes ist. Die Frucht des unethischen Handelns ist etwas Unangenehmes.

Zumindest langfristig gesehen haben gute und schlechte Taten Konsequenzen im Karma. Das stellt aber nicht die Hauptmotivation für Ethik im Raja Yoga dar. Die Hauptmotivation sollte sein, ethisch zu handeln, denn dies hilft dir, dich glücklich zu fühlen und vom Ego wegzukommen. Du fühlst dich verbunden, erfährst Einheit und erreichst Kaivalya sowie die Gottverwirklichung.

Es gibt die fünf Yamas:

  1. Ahimsa - Nichtverletzen
  2. Satya – Wahrhaftigkeit/nicht Lügen
  3. Asteya – Nicht Stehlen
  4. Brahmacharya – Selbstbeherrschung/Vermeidung von sexuellem Fehlverhalten
  5. Aparigraha – Nichtannehmen von Geschenken/Unbestechlichkeit

(Letzteres wird manchmal als „Abwesenheit von Gier“ und „Nichtfesthalten“ bezeichnet.)

Ahimsa:

Ahimsa heißt nicht zu verletzen in Gedanken, Worten und Taten.

Wir finden dieses Prinzip in allen Religionen: im Buddhismus, Christentum, Judentum, Konfuzianismus – eigentlich überall.

In der Bibel steht: „Du sollst nicht töten.“ Das ist Ahimsa.

 

Ahimsa ist ein langer Weg, der nicht immer leicht ist. Manchmal musst du, um Gutes zu bewirken, weniger freundlich sein. Eine Mutter sollte ihr Kind davon abhalten, über eine gefährliche Balustrade zu klettern, um es vor Schaden zu bewahren. Eine Mutter muss ihrem Kind sagen: „Das geht nicht.“ Ein Vater oder eine Mutter muss das Kind daran erinnern, dass die Hausaufgaben gemacht werden müssen. Allerdings geht es immer darum, das Beste zu bewirken. Manchmal muss man ein kleineres Himsa für ein größeres Gutes in Kauf nehmen. Aber nicht jeder Zweck heiligt die Mittel. Nimm dir selbst vor, Ahimsa zu üben.

Satya

Satya heißt Wahrhaftigkeit. Sat heißt Wahrheit, Satya ist Verhalten, das aus der Wahrheit kommt und zurückführt zur höchsten Wahrheit.

Satya heißt „nicht lügen/nicht schwindeln“.

Es heißt aber nicht, dass du jede unangenehme Wahrheit aussprechen musst.

Wenn Satya und Ahimsa oder Ahimsa und ein anderer der vier Yamas im Konflikt stehen, ist Ahimsa wichtiger.

Ethik heißt, immer abzuwägen. Manchmal muss man ein kleines Himsa in Kauf nehmen, um ein größeres Ahimsa zu umgehen.

Angenommen, ich gebe gerade einen Vortrag, bei dem 100 Menschen vor mir sitzen. Plötzlich kommt ein Attentäter hereingerannt, der ein Maschinengewehr in der Hand hält und die Yogaschüler erschießen will. Dann könnte ich die hölzerne Tabla, die ich oft vor mir stehen habe, nehmen, dem Attentäter an den Kopf werfen und ihn damit handlungsunfähig machen. Um das Leben von vielen zu retten, muss man vielleicht das Leben von einem Einzelnen in Gefahr bringen. 

Es gibt viele subtile Ethikfragen, die nicht so einfach zu beantworten sind, z. B. „Gibt es einen gerechten Krieg?“ Darauf kommen wir noch im Rahmen der Bhagavad Gita zu sprechen. Wer ein ethisches Leben führen will, stößt oft auf Grenzfragen. Aber zunächst sei hier auf den Leitspruch „Ich verletze niemanden, nur weil ich nicht bekomme, was ich will“ hingewiesen.

 

Asteya – Nicht Stehlen

„Nicht Stehlen“ heißt, dass du kein Taschendieb wirst. Es heißt, dass du keine Autos aufbrichst und Sachen aus dem Auto stielst oder dass du anderen Yogaschülern keine Wertsachen aus dem Umkleideraum klaust. Das ist logisch und steht außer Frage.

Dies schließt auch ein, keine Kissen, Matten, Decken oder Kirtanhefte aus den Yoga-Ashrams mitzunehmen. All das wäre ein Stehlen.

Asteya heißt, dass du keine CDs kopierst, wenn das nicht erlaubt ist, dass du keine Raubkopien machst und dass du keine Gema-Musik abspielst, bevor du Kurse gibst. Die Künstler, gerade auf dem spirituellen Gebiet, verdienen oft sehr wenig und stecken sehr viel Herzblut in ihre Arbeit. Deswegen solltest du ihre Werke nicht einfach kopieren. Es gibt genug frei zugängliches kostenloses Material, z. B. die vielen online Videos und Podcasts von Yoga Vidya und vielen anderen, etwa auf YouTube. Die Yoga Vidya CDs und DVDs solltest du aber nicht einfach kopieren und weitergeben, sofern es nicht von der Gesetzgebung erlaubt ist.

Asteya heißt auch, bei der Steuererklärung oder beim Zoll nicht zu lügen. Dort nimmst du sonst etwas weg. Mindestens dem Staat werden Mittel fehlen, der überwiegend Gelder für soziale Zwecke verwaltet. Du profitierst selbst davon, dass du auf den Straßen fährst und eine medizinische Versorgung hast. Du genießt dadurch einen gewissen Schutz und eine gewisse Sicherheit. Da ist es angemessen, dies auch zu befolgen. Es ist angemessen, dem Staat die Mittel zu geben, die er braucht, um sich zu finanzieren. Asteya, Nicht Stehlen, ist ein Prinzip.

Diese drei Yamas gelten als die wichtigsten. Wie du sie im Einzelfall umsetzt, musst du abwägen. Patanjali nennt die fünf Yamas, die unbeschränkt gültig sind, und zwar deshalb, weil sie in jeder Lebenssituation anders abgewogen werden müssen.

Brahmacharya

Brahmacharya hat viele Bedeutungen. Es heißt wörtlich „Verhalten, das zu Brahman führt“ oder „Verhalten, das aus Brahman heraus kommt“. Manchmal wird Brahmacharya übersetzt als spirituelles Leben. Brahmacharya heißt in einem bestimmten Kontext sexuelle Enthaltsamkeit.

Brahmacharya ist eine der vier Ashramas. Brahmacharya ist die Schülerschaft beim Lehrer. In einem anderen Kontext ist Brahmacharya das Noviziat, die Vorbereitung darauf, Swami zu werden, Sannyas zu nehmen, Mönch oder Nonne zu werden. Bei Yoga Vidya haben wir Brahmacharis und Brahmacharinis – Personen, die das Gelübde genommen haben, drei Jahre lang sexuell enthaltsam zu leben. Sie kleiden sich in gelber Farbe und überlegen, ob sie langfristig Mönch oder Nonne werden wollen. Wenn sie – normalerweise sechs Jahre – Brahmachari gewesen sind, können sie anschließend Swami werden. Im Kontext des Yoga Sutra heißt Brahmacharya „Vermeidung sexuellen Fehlverhaltens“. Man sollte sich in diesem Kontext fragen, was sexuelles Fehlverhalten ist, denn das wird in jeder Zeit anders interpretiert. Es gibt Kulturen, in denen ein Mann mehrere Frauen haben darf, und umgekehrt auch solche, in denen eine Frau mehrere Männer haben darf. Es gab Zeiten, z. B. während des Mahabharata, da hatte ein Mann mehrere Frauen und die Frau mehrere Männer.

Das ist verwirrend. Da gibt es zum Beispiel Arjuna, eine der fünf Pandavas. Die fünf Pandavas hatten zusammen eine Frau, die Draupadi. Vier der Pandavas hatten andere zusätzliche Frauen. Sie waren alle legal verheiratet. Dies galt als gesellschaftlich akzeptiert. So gibt es durchaus unterschiedliche gesellschaftlich akzeptierte Formen von Brahmacharya.

Vom Yogastandpunkt aus ist bei Brahmacharya das Nichtverletzen, Ahimsa, wichtig.

Ahimsa Paramo Dharma.

Bei Yoga Vidya würden wir Brahmacharya so interpretieren, dass eine sexuelle Beziehung, die von gegenseitiger Liebe, Respekt und Achtung gekennzeichnet ist, Brahmacharya ist.

Brahmacharya bedeutet sich einzuschränken, um ein glücklicheres Leben zu führen und um sich spirituell entwickeln zu können. Man verzichtet auf Gewalt als Ausnutzung von Machtposition und man verzichtet auf Bedrängen, Stalking u. s. w. Zudem ist es ein Verzicht auf das Ausnutzen von Gelegenheiten zum Wohl einer langfristigen Beziehung.

Aparigraha

Aparigraha heißt Unbestechlichkeit und Nichtansammeln. Es umfasst eine Abwesenheit von Gier. Gemeint ist dabei Unbestechlichkeit, insbesondere, dass du keine persönlichen Gefallen annimmst, um im Namen einer Organisation anderen einen Gefallen zu tun.

Unbestechlichkeit heißt, dass du keine Gefallen annimmst, die dich nachher zu unethischem Verhalten bringen.

 

Aparigraha bedeutet hingegen nicht, ganz persönliche Geschenke, wie sie jenseits von Bestechung in Indien beispielsweise üblich sind, anzunehmen. Das ist Dana. Dies ist wiederum etwas Gutes. Genauso kann man dem Partner oder der Partnerin etwas schenken. Dies können Blumen, Obst oder anderes sein. Kinder geben ihren Eltern Dana. Die Kollegen geben sich etwas und so weiter. Dies entspricht Verbindung und Liebe. 

Wenn du von einer Institution etwas bekommst, um in deren Namen anderen einen Gefallen zu tun, wäre dies ein Verstoß gegen Aparigraha.

 

Aparigraha heißt, sich nicht erpressen zu lassen. Es sind hohe Ideale.

Unterschiedliche Menschen gewichten diese Ideale immer etwas anders.

Du magst jetzt selbst darüber nachdenken, wo du Ahimsa, Brahmacharya oder Aparigraha vielleicht mehr leben kannst. Es mag sein, dass du dich in der Art, wie du dein Leben lebst, schon bestätigt fühlst, oder dass du immer wieder abwägen musst. Ich selbst sehe Ahimsa als das Allerhöchste, von dem mein Handeln geprägt ist, an.

Was von diesen ist besonders wichtig für dich? Wo bist du vielleicht zu nachlässig und worauf solltest du mehr achten?

Zu allen fünf Yamas gibt es einzelne Videos auf www.yoga-vidya.de. Dort ist Weiteres über die wörtliche Bedeutung der Yamas zu erfahren, du erhältst weitere Tipps und kannst die direkten Verse des Yoga Sutra finden. Patanjali spricht in den Texten über die betreffenden Yamas, über deren Wirkung und die Möglichkeiten der Umsetzung.

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Stark gekürzter Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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