YVS088 Shiva-Shakti-Philosophie und Tantra

Kundalini Yoga ist der Yoga der Energie. Er beruht auf einer bestimmten Philosophie, die man als Shiva-Shakti-Philosophie bezeichnen kann und die zum großen Gebiet des Tantra gehört.

Tantra ist eine religionsübergreifende spirituelle Bewegung, die in ganz Süd- bis Südostasien existiert. Tantra legt besonderen Wert auf die Verehrung der göttlichen Mutter, auf Umgang mit Energien und auf die Verehrung des Göttlichen überall. Tantrismus gibt es im Hinduismus, im Buddhismus, im Sikhismus, sogar im Taoismus und im Jainismus. Tantra ist Jahrtausende alt. Nach einer Deutung in der Indologie wird gesagt, dass Tantra als Gegenbewegung im indischen Mittelalter entstanden sei: eine Gegenbewegung zum Brahmanismus, der großen Wert auf Rituale gelegt hat; eine Gegenbewegung zum Buddhismus und Jainismus, die großen Wert auf asketische Praktiken gelegt haben; eine Gegenbewegung zu Vedanta und die Philosophie der Weltabkehr. Und so sei Tantrismus stark geworden als lebensbejahendes und die ganze Schöpfung annehmendes Prinzip.

Aber so ganz stimmt es nicht. Wir finden nämlich schon Symbole des Tantra in der uralten Indus-Kultur vor über fünftausend Jahren. Dort gibt es Siegel, auf denen Menschen oder Götter im vollen Lotus, bestimmte Tantra-Yantras oder andere Symbole dargestellt werden. Viel wahrscheinlicher ist das Tantra eine Jahrtausend alte Bewegung, die immer wieder von Neuem spirituelle und religiöse Systeme befruchtet hat. Religionsübergreifend scheint die Verehrung der göttlichen Mutter.

Ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht. Denn es gibt tantrische Bewegungen, die Shiva oder Vishnu als höchsten Gott verehren. Jedoch spielt dort immer auch die Shakti eine Rolle. Wir könnten trotzdem sagen, dass Tantra eine religionsübergreifende spirituelle Bewegung ist, in der Energien und Energiepraktiken eine besondere Rolle spielen und in denen es darum geht, die Göttin zu verehren.

 

Shiva, Shakti und die Entstehung des Universums

Tantra beruht auf einer Philosophie, die man Tantra-Philosophie oder Shiva-Shakti-Philosophie nennen kann. Tantra postuliert zwei Grundprinzipien/Urprinzipien: Shiva und Shakti. Shiva ist im Vedanta der zerstörerische Aspekt von Ishwara, im Tantra aber ist es das Bewusstsein an sich, das Unveränderliche – was wir im Vedanta als Brahman bezeichnen würden. Shakti ist die kosmische Energie, die die ganze Welt schafft, erhält und wieder auflöst – was wir im Vedanta als Maya Jagad bezeichnen würden.

Im Tantra heißt es, dass Shiva und Shakti auf ewig eins sind. Aber obgleich Shiva und Shakti auf ewig eins sind, gibt es einen Moment, in dem sich Shakti von Shiva trennt:

Als Erstes entsteht Spandana, ein Pulsieren und Vibrieren. Dieses ursprüngliche Pulsieren und Vibrieren ist der erste Schritt der Schöpfung. Man könnte sagen: Die höhere Kausalwelt wird geschaffen, wenn Shakti anfängt zu pulsieren – noch nicht konkret, sondern in einem universellen Pulsieren.

Danach gibt es den zweiten Schritt der Schöpfung, die niedere Kausalwelt. Die Shakti beginnt sich etwas zu differenzieren und schafft die Urprinzipien, die noch nicht in Zeit und Raum fassbar jedoch separat sind.

Dann beginnt Shakti die Astralwelt zu schaffen in drei Dichtigkeitsstufen: Im Vedanta würden wir diese bezeichnen als Vijnanamaya Kosha, die Ebene des reinen Geistes, Manomaya Kosha, die Ebene der Emotionen und Astralwesen, sowie Pranamaya Kosha, die Energieebene, das energetische Universum.

Und schließlich folgt der sechste Schritt der Schöpfung: Muladhara Chakra, die Ebene der physischen Welt.

Die Shakti hat sich also von Shiva ausgebreitet, zunächst die Kausalwelten geschaffen, die weiter existieren, hat sich zusammengezogen und differenziert in den drei Astralwelten, hat sich weiter zusammengezogen und differenziert in der physischen Welt. Und auch auf der physischen Welt ist weiter alles nur Shakti. Es gibt keine feste Materie, es ist alles pulsierende Kraft. Nur eines bleibt unbewegt: Shiva.

Übrigens geht auch die christliche Schöpfung davon aus, dass Gott die Welt in sechs Tagen geschaffen und am siebten Tag geruht hat. Shiva und Shakti waren ursprünglich eins, sie durchlaufen sechs Schaffungsebenen, und wenn die physische Welt geschaffen ist, gibt es auf gewisse Weise eine Ruhe, denn es wird keine neue Ebene geschaffen. Doch ist das kein echtes Ruhen, da sich Shakti die ganze Zeit bewegt.

 

Veränderung und Auflösung des Universums

Und damit ist auch klar, dass nichts gleich bleibt in dieser Welt. Hier eine Empfehlung: Sieh die göttliche Energie in den ganzen Veränderungen dieser Welt. Shakti bewegt sich immer. Denke nicht, dass etwas gleich bleiben muss. Alles verändert sich, alles ist im Fluss. Es ist wie ein kosmischer Tanz. Tanze ihn mit und wachse dadurch.

Die Shiva-Shakti-Philosophie sagt also: irgendwann ist das Universum entstanden, weil Shiva sich von Shakti getrennt hat. Der Schöpfungszyklus geht in sechs Stufen in die Welt hinein, aber dann auch wieder aus der Welt heraus. Momentan befinden wir uns noch in einer Phase der Expansion des physischen Universums. Irgendwann hört diese auf und das physische Universum zieht sich wieder zusammen:

Es wird absorbiert in das untere Astraluniversum. Dieses wird absorbiert ins mittlere Astraluniversum. Dieses wird absorbiert in das höhere Astraluniversum. Und das wird wiederum absorbiert in das niedere Kausaluniversum, das höhere Kausaluniversum und Shakti wird wieder eins mit Shiva. Ein Schöpfungszyklus ist damit zuende.

Doch damit hört es nicht auf, sondern der nächste Schöpfungszyklus beginnt. Kundalini Yoga sagt: ein ewiger Kreislauf, kosmische Schöpfung und kosmische Auflösung. Es gibt sogar Schriften, die sagen, wie lange ein Schöpfungszyklus dauert. In einer Lesart der Surya Siddhanta sind es beispielsweise 311 Trillionen Jahre, also eine sehr lange Zeit.

 

Shiva-Shakti im Mikrokosmos

Die Shiva-Shakti-Philosophie hat aber nicht nur diese makrokosmische Betrachtungsweise, sondern auch eine mikrokosmische Betrachtungsweise. In den meisten religiösen und esoterischen spirituellen System finden wir die Aussage, dass der Makrokosmos dem Mikrokosmos entspricht. Alles, was es im gesamten Universum gibt, gibt es auch im einzelnen Menschen. Alles, was es im kosmischen Universum gibt, gibt es auch in Dir!

Du bist ein Mikrokosmos. Auch in Dir ist Shiva als reines Bewusstsein: Sat-Chid-Ananda, Sein-Wissen-Glückseligkeit. Shakti manifestiert sich in Dir als physischer Körper, als Astralkörper und als Kausalkörper. Im Astralkörper als Pranamaya Kosha, entsprechend dem zweiten Chakra, als Manomaya Kosha, entsprechend dem dritten Chakra, sowie als Vijnanamaya Kosha, entsprechend dem vierten Chakra. Im Kausalkörper in zwei Dichtigkeitsstufen als Vishuddha Chakra und Ajna Chakra. Die höchste Einheit von Shiva und Shakti entspricht dem höchsten Chakra, dem Sahasrara Chakra.

Du selbst hast schon einiges hinter Dir. Nachdem die physische Welt geschaffen ist, ist es das Mineral, das Pranamaya Kosha aktivieren will, woraus eine Pflanze entsteht. Die Pflanze entwickelt sich weiter, es soll Manomaya Kosha aktiviert werden mit allen Gefühlen, Wahrnehmungen, Wünschen und Handlungsneigungen, woraus Tiere entstehen. Shakti erwacht weiter und entwickelt sich weiter. Schließlich öffnet sich Anahata Chakra, Vijnanamaya Kosha, Intellekt, Vernunft, Selbstwertgefühl. Shakti will aber nicht nur das entwickeln, sondern auch die tieferen Aspekte von Vijnanamaya Kosha: reine Liebe, reine Freude. Sie sucht weiter und öffnet Vishuddha Chakra und Ajna Chakra, verschmelzt schließlich mit Sahasrara Chakra.

 

Wer bin ich? Rückkehr zum Ursprung!

Diese Energie in der ganzen Schöpfung, die wieder zurückkehren will zum Ursprung, wird als Kundalini bezeichnet. Kundalini, also die kosmische Shakti im Menschen, will Dich zurückführen zum Ursprung. Im Menschen ist die Kundalini schon aktiv in dem Sinne, dass sie Prana entwickelt hat wie in der Pflanze, hat Emotionen und einfaches Denken, Wünschen, Handeln, entwickelt, Manomaya Kosha wie in den Tieren, hat schon eine gewisse Vernunft, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl entwickelt, Vijnanamaya Kosha.

Kundalini ist aber damit nicht zufrieden, sie will weiterziehen und kann sich dabei schrittweise oder schneller entwickeln. Sie will schließlich den Menschen dazu bringen, Fragen zu stellen wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Im Grunde genommen ist das ein weiteres Erwachen. Vom Jnana Yoga wäre das Shubheccha. Und wenn diese Fragen tiefer werden und den Menschen zu intensiver Praxis anregen, ist das Vicharana. Kundalini erwacht weiter, transformiert und Du wirst durchlässig für die Tiefe Deines Wesens, Tanumanasa. Kundalini erwacht weiter, reine Energie, reine Shakti entsteht, Sattvapatti. Und irgendwann wird die Kundalini so stark, dass Du Überbewusstsein erreichst, Asamsakti.

In diesem Sinne erklärt die Shiva-Shakti-Philosophie das gesamte Universum, erklärt auch wer Du bist und worum es in Deinem weiteren Leben geht: das Zurückkehren zum Ursprung. Kundalini Yoga selbst ist dann auch die Praxis, die Deiner tiefen Sehnsucht folgt. Kundalini Yoga ist also keine unnatürliche Praxis – Du solltest sie nicht erzwingen – sondern es heißt, dem Ruf der Seele zu folgen, sodass die Kundalini einen harmonischen Aufstieg hat und Du spirituell wachsen kannst.

Das ist also die Shiva-Shakti-Philosophie, die Tantra-Philosophie, die dann noch schreibt über Prana, Nadis und Chakras, über Evolutionsaufgaben, und welche Praktiken du hast, um weiterzukommen.

 

 

Zusammenfassung

Tantra als grundlegendes spirituelles System hinter Kundalini Yoga beruht auf der Shiva-Shakti-Philosophie. Shiva ist unendliches Bewusstsein, Shakti ist die Energie. Tantra gibt eine Erklärung, wie das Universum entstanden ist, was das Universum ist und wie Du zu Deinem Ursprung zurückkehren kannst. Es gibt dabei die makrokosmische und die mikrokosmische Betrachtungsweise. Tantra sagt, die Kundalini will in Dir erwachen und Dich zur Erleuchtung  führen. Spirituelle Praktiken ausführen heißt, diesem Ruf der Seele zu folgen. Du als scheinbares Einzelwesen hast einen physischen Körper, Du hast die anderen subtileren Körper, Du hast Chakras und Nadis. Tief im Inneren ist die Sehnsucht, zur Erleuchtung zu kommen.

Tantra hat verschiedene Ziele und es gibt verschiedene Untergruppierungen von Tantra. Schwarzes, rotes und weißes Tantra; bei Yoga Vidya praktizieren wir weißes Tantra, um zur Erleuchtung zu kommen und gutes zu bewirken. Es gibt dabei den linkshändigen und den rechtshändigen Weg; bei Yoga Vidya gehen wir den rechtshändigen Weg, um so weit wie möglich in Harmonie mit unserer Umwelt zu sein. Es gibt dem rituellen Tantra, den wir bei Yoga Vidya ein klein wenig nutzen, und es gibt den Sadhana Tantra, den Tantra der spirituellen Praktiken. Man könnte sagen, der weiße, rechtshändige Sadhana Tantra, das ist Kundalini Yoga. Und darum geht es, wenn Du bei Yoga Vidya Kundalini Yoga Seminare mitmachst.

Vielleicht kannst Du das zum Anlass nehmen, in den nächsten Tagen Deine Asanas intensiver zu machen, konzentrierter zu sein, etwas mehr Pranayama zu üben und Dich vielleicht auch in der Meditation besonders auf die Chakras zu konzentrieren, die Shakti bewusst zu empfinden und hochzuziehen zu Shiva im Sahasrara Chakra. Für Sat-Chid-Ananda – Sein-Wissen-Glückseligkeit.

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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