Shabbat-Jahr - Medizin gegen den Geist der Zeit

© 2014 Text: Bhajan Noam

Besonders in Lehrer-Kreisen ist das Shabbat-Jahr eine beliebte Möglichkeit, einmal ein ganzes Jahr Abstand zu nehmen vom aufreibenden Schulalltag und in der Ruhe, vielleicht bei einer Weltreise oder bei einem Kloster-Retreat oder bei der Beschäftigung im eigenen kleinen Garten und zielfreien Spaziergängen, wieder zu sich selbst zu finden, neue Kräfte zu tanken, mit dem Gedanken einer beruflichen Umorientierung zu spielen, vielleicht ihn sogar konkret werden zu lassen.

Das jüdische Jahr 5775, Ende September 2014 bis Ende September 2015, ist nach alter Tradition wie jedes siebte Jahre ein Shabbat-Jahr. Es beruht auf den Aussagen im Buch Moses: "Und sechs Jahre besäe dein Feld und sammle seinen Ertrag ein. Aber im siebten lass es ruhen und brachliegen, damit die Armen deines Volkes essen mögen, und was sie übrig lassen, mögen die Tiere des Feldes essen, und so mache es mit deinem Weinberg und deinem Olivenhain» (Exodus 23:10–11). Und «am Ende von sieben Jahren halte Erlass. Und dies ist die Angelegenheit des Erlasses: Jeder Gläubiger erlasse, was er seinem Nächsten geliehen hat, er dränge nicht seinen Nächsten und seinen Bruder, denn ein Erlass Gottes ist verkündet» (Deuteronomium 15:1–2).

Was ist das faszinierende an einem Shabbat-Jahr und sein tiefes Geheimnis? Es ist die Prüfung des eigenen Gottvertrauens, des Vertrauens, das Seine Vorsehung uns das Richtige tun lässt und dass Er stets in uns gemäßer Weise für uns sorgt. Es ist zwar vordergründig ein Rückzug, doch wie der Text uns sagt, ist er mit einer sozialen Verantwortung verknüpft. Wir treten in den Hintergrund, um neue Räume in uns selbst zu entdecken, aber auch dem Mitmenschen Raum zu gewähren, den wir eventuell gedankenlos allzu sehr eingenommen hatten. 

Im jüdischen Glauben sagt man, dass das physische Universum vom moralischen Universum abhängt. Es gibt eine besondere Übereinstimmung und gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem natürlichen und dem moralischen Recht und die Erde selbst widersetzt sich Ignoranz und Gier. Der metaphysische Charakter der Anordnungen Gottes ist nicht immer einfach zu akzeptieren in dieser Welt der irdischen Realitäten, die durch Naturgesetze aber auch durch menschliche Gewohnheiten und Unzulänglichkeiten beherrscht wird. Im Rückzug werden wir der grundlegenden Gesetze in uns gewahr und bemerken immer mehr, dass es gar nicht so schwer ist, ihnen zu folgen, ja dass sogar Leichtigkeit, Freude, wachsendes Verstehen und dann ein natürliches Verantwortungsgefühl dabei in uns reift.

Und natürlich entstehen auch Ängste. Was geschieht mit mir während dieser Auszeit? Was ist, wenn ich dann tatsächlich nicht mehr in mein altes Leben zurückkehren will oder kann? Wird sich dadurch in meinen Freundschaften etwas ändern? Wie wird es mein Partner, meine Partnerin erleben? Will ich überhaupt eine Veränderung? Werde ich materielle Einbußen haben? - Der alte Text der Thora kennt die Probleme und spricht sie an: Und wenn ihr sagt: "Was werden wir essen im siebten Jahr? Siehe, wir dürfen nicht säen und nicht unseren Ertrag einsammeln." Ich aber werde euch meinen Segen gebieten im sechsten Jahr, und es wird den Ertrag bringen für drei Jahre" (Leviticus 25.20–21).  

Diese Antwort scheint nur das Vertrauen in eine materielle Versorgung zu betreffen. Bibeltexte sind immer zugleich konkret und Metapher. Eine Auszeit wird ein Segen und Licht für den Geist sein, sie wird ihn befreien vom schubladenhaften und mechanischen Denken. Sie wird die Phantasie beflügeln und die brachliegenden kreativen Eigenschaften reanimieren. Eine Auszeit kann auch einen Gang durch die Dunkelheit beinhalten, wo wir plötzlich kein Ziel mehr sehen und wo unser gesammeltes Wissen versagt. Diese Dunkelheit ist das vorbereitete Beet für die neuen Saatkörner. Hier schlummern für eine Weile alle die bunten Blüten des neuen Geistes. Der Segen ruht jederzeit in uns und wartet darauf, von uns angenommen zu werden.

Das göttliche Gebot, den Shabbat und das Shabbatjahr zu achten, erweist sich als prophetisches Gegenmittel aus alter Zeit für den modernen Menschen, der unter einer gefährlichen Entwicklung leidet: dem Stress einer beschleunigten Gesellschaft, der immer mehr Menschen zu Aufputschdrogen und Psychopharmaka greifen lässt und letztlich in den Burn-out stürzt. Ein gesundes Verhältnis zwischen Arbeit und Erholung, zwischen Zeiten die dem Materiellen und Zeiten, die dem Geistigen gewidmet werden, ist verloren gegangen. Viele werden von Existenzängsten getrieben und manchen ist die Existenzgrundlage schon abhanden gekommen, was den allgemeinen Druck erhöht.

Die wenigsten sind Akademiker oder in einer ähnlich begünstigten Stellung, um sich ein Shabbat-Jahr leisten zu können. Man kann aber jederzeit den inneren Schalter umlegen, das Handy abschalten, den Laptop zuklappen, für seine Familie, seine Kinder bzw. seine Eltern mehr Zeit einplanen. Weil die familiären Bande zerrissen sind, sind auch wir zerrissen, leben wir in einer zerrissenen Gesellschaft, in der jeder blind einem Ersatz nachrennt und das Echte ganz aus den Augen verloren hat. Gute Gespräche, ein gemeinsamer Abend in der Familie oder mit Freunden, ein gutes Buch, dass man schon lange lesen wollte, ein Spaziergang - alles das oder ähnliches kann ein Mini-Shabbat sein.

Im Buch der Sprüche fragt König Salomo: "Was kriegt der Mensch von all seiner Arbeit und Mühe, die er hat unter der Sonne?" und er ermahnt: "Alles hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; …weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; …schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; …Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in die Herzen der Menschen gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun an seinem Leben. Denn der Mensch, der isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinen Mühen, das ist eine Gabe Gottes." 

Das Shabbat-Jahr dürfen wir ruhig auch symbolisch nehmen für jede kleine Pause im Alltag, für eine Meditation, die uns erfrischt und rückbindet, für den geheimen Raum in unserem Herzen, dessen Betreten wir uns jetzt öfter gewähren und vor allem für eine Zeit, in der wir gegenseitig wieder unsere Herzen öfter besuchen.

Ich habe vor zwei Wochen mein Shabbat-Jahr begonnen. Das bedeutet in meinem Fall, dass ich zwar weiterhin meine Seminare gebe, dass ich jedoch in den Pausen zwischen den Arbeitszeiten, die manchmal ein Monat sind, wenig tun werde und mich freudig an die Stille erinnern werde. Das klingt bei mir etwas komisch, weil ich schon länger so lebe. Ich empfinde jetzt dabei eine neue Qualität, eine neue Innerlichkeit und etwas, für das Worte nicht geeignet sind es zu benennen. Nur Schweigen oder ein Lachen oder eine Geste aus dem Bauch kann es… vielleicht. Ich weiß nicht, was in dieser Zeit auf mich zukommen wird. Aber das wissen wir eigentlich alle nicht. Es ist unser geglaubtes Wissen, das uns für Wunder unempfänglich macht. Ich möchte die Schönheit des Nichtwissens genießen. Das ist der größte Luxus, der einem Menschen zufließen kann. OM Shanti, Shalom.

 

- Bhajan Noam -

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

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