Pfingsten und Shavuot

„Mancher stößt Reden aus wie Schwertstiche; aber die Zunge der Weisen ist Heilung.“ Sprüche Salomons 12.18

Zu diesem Kommentar inspirierte mich ein besonderer Feiertag. Beim Aufwachen heute in der Frühe erfüllte ein feines Licht den Raum und ebenso meinen Geist. Es ist das jüdische Fest Shavuot. An diesem Tag empfing das Volk Gottes am Berge Sinai vor rund 3300 Jahren die heilige Thora. Shavuot wird fünfzig Tage nach Pessach begangen. Beide Feiertage, Pessach und Shavuot, finden im Christentum ihre Entsprechung im Osterfest und in Pfingsten. Zu Pessach wird an den Auszug aus Ägypten und an das Ende der Knechtschaft unter der Pharaonenherrschaft gedacht. Ostern, das Fest der Auferstehung, will uns an das Ende der Knechtschaft unter einem trostlosen Dasein fernab von jeder Sinnhaftigkeit erinnern. An Ostern wurde dem Menschen bezeugt, dass sein wirkliches Leben in Gottes Licht und Ewigkeit ruht. An Shavuot erhielt das Volk Israel die heiligen Texte der Thora als Bindeglied zu Gott. Es wurde aufgefordert, den Geboten zu folgen und täglich die Thora zu studieren, um Gott immer tiefer zu verstehen und sich so seiner Gnade anzunähern. An Pfingsten, dem fünfzigsten Tag nach Ostern, fand die Ausgießung des heiligen Geistes statt. Die Jünger Jesu überkam unvorbereitet himmlische Weisheit und lichtvoller Segen – sie sprachen frei und mit Gottes Vollmacht zu den Menschen und schenkten den erhaltenen Segen weiter. Keine Schrift, keine Macht einer Priesterschaft stand nunmehr zwischen den Gläubigen und Gott, alles wahre Wissen wurde ihnen eingegeben.
 
Das Pfingstereignis hat weitreichende Folgen, da es uns unmittelbar mit dem Schöpfer verbindet und somit mit allen seinen Geschöpfen. Ab diesem Moment sind wir auf höchster, göttlicher Ebene vereint. Keine Hierarchie existiert mehr, keine Machtstrukturen, keine Ämter – und keine Gegner, keine zu bekämpfenden Feinde. Jeder ist aufgefordert, seine Brüder und Schwestern in die Arme zu schließen, egal, welchen Glaubens sie sind oder welcher Weltanschauung sie anhängen. In Gott existiert kein trennender Gedanke.
 
Jesus sagt in der Bergpredigt: „Widerstehe nicht deinen Feinden; wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere Wange hin.“ – Was meint er damit? Sollen wir uns etwa wie Feiglinge benehmen? Nein, Jesus fordert dazu auf, uns wie wirkliche Helden zu benehmen. Die Helden auf den Schlachtfeldern der Geschichte sind nichts als Pseudo-Helden. Du aber sei ein Held auf dem Feld der Menschlichkeit! Ein wirklicher Held unterliegt nicht den Gesetzen der Vergeltung, der Rache. Er ist frei von kindischen Reaktionen. Er hat das wesentlichste aller Gebote verstanden: „Was du nicht willst, das man dir antut, das füge auch keinem anderen zu.“ Soll dich niemand schlagen, dann schlage auch du niemand! Willst du von niemand beschimpft werden, beschimpfe du niemand. Fange damit an! Wenn dich jemand schlägt, wenn dich jemand beschimpft, spreche nicht die gleiche Sprache, wo soll es sonst enden. – „Mancher stößt Reden aus wie Schwertstiche; aber die Zunge der Weisen ist Heilung.“
 
Der Satz Jesu geht aber noch tiefer. Schlägt dich jemand auf die rechte Wange, das heißt, trifft er eine Schwachstelle, spiegelt er dir eine alles andere als friedfertige Seite deines Wesens wider, dann empfange gleich das ganze Paket. Halte ihm auch die linke Wange hin. Sei bereit, lasse dir sämtliche dunkle Flecken auf deiner Seele zeigen. Verstecke nichts und spiele keinen Heiligen, sagt Jesus, du sollst vielmehr wachsen, reifen, aufblühen und hell erstrahlen, in dem du das Dunkle, das Unbewusste dank deines vermeintlichen Gegners erkennst. Vertue nicht die kostbare Gelegenheit. Und sei dankbar. Deine sogenannten Feinde sind nichts anderes als die Summe aller verdrängten Anteile in dir.
 
Ein weiterer Aspekt dieses Weisheitsspruchs ist: Nicht nur laute Worte sind wie Schwertstiche ins Herz, auch leise Vorwürfe, versteckter Tadel, unterschwellige Sarkasmen oder ein vielleicht ungewolltes Beschämen treffen genauso tief. „... die Zunge des Weisen (hingegen) ist Heilung.“ Manchmal ist es auch sein Schweigen. – Ein berühmter Rabbi war von einer entfernten Gemeinde zur Feier des Shabbat eingeladen worden. Alle genossen das Beisammensein mit ihm und lauschten mit Andacht seinen weisen Lehren. Als es schließlich Abend wurde, verabschiedeten sie ihn wehmütig doch mit großer Dankbarkeit im Herzen. Eines der Gemeindemitglieder führte ihn zum Auto und schloss, nachdem sich der Rabbi auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, die Wagentür. Der Fahrer fuhr los, als er aber um die nächste Straßenecke gebogen war, bat ihn der Rabbi anzuhalten und die Beifahrertür zu öffnen. Der Fahrer tat dies und der Rabbi zog seine eingeklemmte, schmerzende Hand aus dem Türspalt. Der Fahrer erschrak und fragte den Rabbi, warum er nicht gleich etwas gesagt hätte und nicht mit dem Gemeindemitglied geschimpft hätte. Der Rabbi antwortete: „Hätte ich ihn vor allen beschämen sollen? Er hat mir eine Ehre erwiesen, er hat mich alten Mann zum Auto geführt und mir auf den Sitz geholfen. Wie hätte er vor der Gemeinde dagestanden als jemand, der die Hand des Rabbi verletzt hat?“
 
Friedfertigkeit, Menschlichkeit und Respekt aus tiefer spiritueller Einsicht – und als Konsequenz daraus die Tilgung aller Unterschiede, Ränge und Kasten –, dafür steht auch eine Episode, die ich aus dem Leben der bekannten Sufi-Meisterin Rabiya aus Basra erzählen möchte. Als Rabiya, die aus einer sehr armen Familie stammte, herangewachsen war, starb ihr Vater. Sie verließ darauf die Familie, um ihr nicht zur Last zu fallen und zog durchs Land stets auf der Suche nach Arbeit. Eines Tages wurde sie von Räubern gefangen genommen und als Sklavin verkauft. Nun begann ein hartes Leben. Rabiya, die schon seit ihrer Kindheit eine innige Verbindung zu Gott in sich spürte, verlor nicht den Mut. Tagsüber leistete sie schwere Arbeit, dennoch verbrachte sie jede Nacht etliche Stunden im Gebet. Oft war sie so vertieft, dass sie laut sang und mit Gott sprach. Ihr Besitzer, der eines Nachts aufgestanden war, hörte, wie Rabiya zu Allah rief: „Du weißt, wie sehr ich dich liebe und dass ich gerne Tag und Nacht nur zu dir beten und für dich singen möchte, aber ich muss am Tag arbeiten, was soll ich machen.“ Diese Worte Rabiyas und ihre inbrünstige Gläubigkeit trafen ihn so tief in seinem Herzen, dass er es für Gotteslästerung hielt, weiterhin ihr Herr zu sein, denn sie hatte Allah, wie konnte er dazwischen stehen! Und am Morgen sprach er sie an und sagte, er sei ab heute ihr Diener und sie könne als seine Herrin im Haus leben, wenn sie aber lieber gehen wolle, könne sie frei gehen. Rabiya dankte ihm und sagte, dass sie gehen wolle und ab jetzt nur noch Gott dienen möchte und zog darauf in die Wüste, wo sie mehrere Jahre das Leben einer Einsiedlerin führte.
 
Gleichen Respekt, gleiche Achtung erleben wir ebenfalls im Buch „Ruth“ im alten Testament, das gerade jetzt zu Shavuot von vielen Gläubigen gelesen wird. – König Salomo, wie auch die erzählten Geschichten, fordern dazu auf, dass wir uns der Macht unserer Worte immer wieder bewusst sein sollen. Sie können Heilung und Segen spenden, und sie können ebenso Leid und Unheil anrichten. – „Mancher stößt Reden aus wie Schwertstiche; aber die Zunge der Weisen ist Heilung.“ – Mögen wir alle uns redlich um Weisheit bemühen, mögen unsere Worte Balsam sein für die Seelen, denen wir auf unserem Lebensweg begegnen. Der Buddha sagt im Dhammapada: „Freue dich, sei liebevoll, selbst unter denjenigen, die hassen. Freue dich, bleib gesund, selbst unter den Kranken. Freue dich, bleib friedlich, selbst unter den Empörten.“
 
© 2017 Text: Bhajan Noam
 
Aus meinem Buch "In Salomons Garten"
 
 
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