„Ein überwundenes Gelüst ist der Seele süß.“ 13.19
© 2016 Kommentar: Bhajan Noam - Was ist ein Gelüst und was dient unseren wahren Interessen und unserem Wesenskern? Wie gelingt uns die Überwindung eines Gelüstes? Wenn wir in der Süße von Gelüsten schwelgen, woran bemerken wir, dass es uns an einer ganz anderen Süße mangelt? Diese Fragen werden in der Regel ignoriert oder sehr moralisch abgehandelt. Es gilt aber nicht, einen Mittelweg zwischen Ignoranz und Moral zu kreieren, einen faulen Kompromiss also, es gilt vielmehr eine schlummernde Instanz wieder zum Leben zu erwecken. Diese Kontrollinstanz ist unsere Bewusstheit, ist unsere wachsende Sensibilität, ist die kosmische Intelligenz, die jenseits des korrupten Verstandes klare Entscheidungen zu treffen vermag und die uns in jedem Augenblick zur Verfügung stehen kann. Wir können an dieser Stelle fragen, was ist mit dem Menschen geschehen, dass er eher träumend durch sein Leben stolpert als mit wachen Sinnen und klarem Bewusstsein? Für einen Meister wie Dschuang Dsi stellt sich eine solche Frage nicht und er macht aus dem Zustand der Welt kein Problem. Er sagt: „Trotz der Größe der sichtbaren und unsichtbaren Welt vollziehen sich ihre Wandlungen doch im Gleichgewicht; trotz der Vielheit der Einzeldinge unterstehen sie doch Einer durchgehenden Ordnung; trotz der Menge der Einzelmenschen unterstehen sie doch Einem Herrn. Das Herrsein hat seinen Ursprung im LEBEN und vollendet sich durch den Himmel; darum ist es ein Mysterium. Die Alten waren Herren der Welt, indem sie nicht handelten und einfach dem LEBEN des Himmels seinen Lauf ließen. Wenn man die Begriffe im Lichte des SINNS betrachtet, so bekommt der Herrscher der Welt seine rechte Stellung. Wenn man die Rangunterschiede im Lichte des SINNS betrachtet, so werden die Pflichten von Herren und Knechten klar. Wenn man die Fähigkeiten im Lichte des SINNS betrachtet, so findet jeder auf der Welt die ihm entsprechende Stellung. Wenn man das All im Lichte des SINNS betrachtet, so werden die Beziehungen der Einzelwesen zueinander vollkommen. Denn, was Himmel und Erde durchdringt, ist das LEBEN; was in allen Einzelwesen wirksam ist, ist der SINN.“
Was in diesen Zeilen als „SINN“ bezeichnet wird ist in der chinesischen Philosophie das TAO, im Buddhismus das Dharma und in der christlichen Mystik die kosmische Ordnung, das kosmische Gesetz. Es steht weit jenseits der Begriffe Karma oder Schicksal. Auch ein Karma oder ein Schicksal müssen ausnahmslos dem kosmischen Gesetz folgen, es gibt keine höhere Ordnung und es existieren keine Willkür, keine Zufälle, keine anderen Wirkprinzipien innerhalb und außerhalb von ihm. König Salomon sagt: „Ein überwundenes Gelüst ist der Seele süß.“ – Niemand aber überwindet ein Gelüst als das Bewusstsein, das als ein Werkzeug der kosmischen Ordnung in uns arbeitet. Das Bewusstsein schärft die Sinne, fördert eine uns dienende Intelligenz, öffnet unser Herz und bringt auf ganz natürlichem Wege eine immer neue Harmonie in unser Sein. Dschuang Dsi sagt: „Aus höchster Warte gesehen gibt es keine Disharmonie in dieser Schöpfung. Was uns als disharmonisch erscheint, ist nur ein fremder Klang, eine unbekannte Farbe, eine energetische Schwingung deren Zweck wir nicht verstehen und Wirkung wir nicht sehen. Der Sinn, das Tao sorgen in jedem Augenblick für ein harmonisches Wachstum in allen Wesen und Dingen.“
Eine alte indische Geschichte, die ich hier erzählen möchte, hat eine scheinbar radikale Sichtweise zu dem Thema, die ich am Ende näher erläutern werde. – „Es war einmal ein Jäger, der war einen ganzen Vormittag auf der Jagd und hatte nichts erlegt. Zur Mittagszeit wurde er hungrig. Da entledigte er sich seiner Waffe, setzte sich gemütlich unter einen Rhododendronbaum und packte sein mitgebrachtes Essen aus. Am selben Tag hatte auch ein Tiger in der Umgebung gejagt und auch nichts erbeutet.
Als er den Mann witterte und schließlich arglos da sitzen und essen sah, dachte er: ‚Da ist ja meine Beute!’ Vorsichtig schlich er sich an. Aber ein trockener Ast knackte unter seinen Pfoten. Im selben Moment fuhr der Jäger erschrocken hoch und erblickte das Raubtier. Sein Herz raste, die Nackenhaare sträubten sich ihm und alle Muskeln spannten sich an. Dummerweise hatte er sein Gewehr einige Meter weit entfernt an den Stamm des Baumes gelehnt. Zu weit, um es blitzschnell zu ergreifen und auf den Tiger anzulegen – ihm blieb nur die Flucht.
So rasch er nur konnte rannte er im Zickzack und gebückt rechts oder links an den Bäumen und dem Gestrüpp vorbei und hindurch unter den niedrigen Ästen. Doch es besteht ein uraltes Naturgesetz, welches besagt: Ein hungriger Tiger läuft schneller als ein Mensch. Der Jäger erlebte hautnah. Fast schon spürte er den heißen Atem des Raubtiers in seinem Nacken, da sah er vor sich am Waldrand einen alten Brunnen. Mit langen Sätzen und einem eben noch rechtzeitigen Sprung entkam er dem Tiger um Haaresbreite.
Während des Fallens standen seine Gedanken still und so griff er instinktiv und beherzt nach einer Wurzel, die auf halber Höhe aus der Umfassung ragte. Er wusste ja schließlich nicht, wie tief der Brunnen war und ob er nicht an dessen Grund zerschmettern würde. Als er langsam wieder zu Atem kam – das Grollen des Tigers über sich – und seine Augen das Halbdunkel unter ihm durchdrangen, erblickte er zu seinem Entsetzen eine große Pythonschlange, die sich vom gar nicht fernen Grund des Brunnens ihm entgegenstreckte. Fast hätte er vor Schreck die rettende Wurzel wieder losgelassen. Zitternd klammerte er sich an ihr fest und hoffte, seine Kräfte würden nicht schwinden.
Doch da machte er eine neue furchtbare Entdeckung. Neben dem knorrigen Holz, an dem er baumelte befand sich ein Loch, aus dem abwechselnd eine weiße und eine schwarze Ratte hervorkamen und an der Wurzel nagten. Sie ließen sich dabei durch nichts stören. Glücklicherweise schien ihm die Wurzel aber recht dick zu sein.
Während er nun so da hing, entdeckte er gleich neben sich eine Bienenwabe. Der süße Duft des Honigs stieg ihm in die Nase und es verlangte ihn nach dieser Köstlichkeit. Mit einer Hand griff er danach und schleckte begierig von dem tropfenden Honig, während die wütenden Bienen ihn zugleich zerstachen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch es war nur eine kurze Zeit, da hatten die weiße und die schwarze Ratte die Wurzel durchgenagt. Der Jäger fiel in die Tiefe des Brunnens, wo ihn die Pythonschlange fraß.“
Diese Geschichte ist ein symbolisches Abbild unseres Lebens. Der Tiger ist die Zeit, die uns jagt. Die Wurzel ist das Leben, an dem wir hängen. Die weiße und die schwarze Ratte sind die Tage und Nächte, die dahineilen. Die Pythonschlange ist der Tod, der auf uns lauert. Die Honigwabe stellt die Sinnesobjekte dar, von denen wir uns Freude und Erfüllung versprechen, obwohl die Stacheln und das Gift der Bienen uns eines Besseren belehren wollen. – Gibt es auch einen Hoffnungsschimmer in dieser Geschichte? Aber ja! Von Rabbi Nachman können wir die folgende positive Sichtweise lernen: Wer sich in einer solch verzweifelten und ausweglosen Lage der vergänglichen Süße des Honigs, so wie dieser Jäger, hinzugeben versteht, der bringt im nächsten Leben die beste Voraussetzung mit, sich in jeder Situation der unendlichen Süße Gottes preiszugeben. Er wird unausweichlich einem Meister begegnen, der ihn darauf hinweist – indem er ihm vielleicht genau diese Geschichte erzählt.
- Bhajan Noam -
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