Der Mensch, ein Individuum auf dem Weg

 © 2015 Text: Bhajan Noam 

Die kleinste und eigentlich relevante Einheit ist das Individuum, ist der einzelne Mensch. Deshalb ist die vorrangige und wesentlichste Aufgabe des Menschen, der seinen ganz eigenen Weg beschreiten will oder aus einer inneren Wahrheit heraus beschreiten muss, sich aus allen äußeren und inneren Verstrickungen zu lösen. Diese Verstrickungen sind nur dann lösbar, wenn man sie als wechselseitige Geschäfte zu durchschauen bereit ist.

 

Man genießt den Schutz der Familie, aber man muss sich dafür im Sinn der Familie benehmen und erziehen lassen, man muss ihren Glauben übernehmen, ihre Weltanschauung und ihr politisches Agieren im Kleinen. Man genießt den Schutz eines Staates, doch man muss dafür auch dessen Gesetze erfüllen, Abgaben zahlen und dessen Politik im Großen unterstützen oder zumindest nicht stören. Man genießt den Schutz einer Religionsgemeinschaft, doch dafür sind deren Regeln einzuhalten, deren Bekenntnisse nachzusprechen und deren Ausgrenzungen Andersgläubiger mitzutragen. Man genießt den Schutz in einem Arbeitsverhältnis, und natürlich muss man für den Arbeitgeber in dessen Sinn tätig sein, man muss seine körperlichen und geistigen Kräfte dem Unternehmen, oft über die eigenen Grenzen der Leistungsfähigkeit hinaus, zur Verfügung stellen, man opfert also seinen freien kreativen Geist, seine körperliche und psychische Gesundheit, wie man zum größten Teil auch bereitwillig oder widerwillig seinen freien Willen aufgibt.

 

Wer allmählich zu fühlen und zu verstehen beginnt, dass der Mensch ein geistig-seelisches Wesen ist und der Körper dieser Seele nur verliehen wurde, um gewisse Erfahrungen zu machen und sich in diesem großen kosmischen Spiel weiterzuentwickeln, der wird auch beginnen, der materiellen Welt weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Hierbei kann nun die stets gegebene Ambivalenz der oben genannten Institutionen sichtbar werden. Und man durchschaut oder erahnt, was einen Ablösungsprozess am Anfang so energieaufwendig macht.

 

 

Eine Familie bietet ja nicht nur einen materiellen Schutz, sondern spielt auf der psychischen Ebene eine ganz wesentliche Rolle. Ebenso kann sie auch eine spirituelle Heimat sein. Eine Religionsgemeinschaft bietet sich als spirituelle Heimat an, ist aber oft, verpflechtungsbedingt, auch ein materieller Hort. Ein Staat stiftet dem Einzelnen neben körperlichem Schutz auch kulturelle und oft religiöse Identität. Der Arbeitsplatz ist ab einem bestimmten Alter wiederum Voraussetzung, um ein anerkanntes Mitglied in den vorhergenannten Institutionen zu sein. So befindet man sich in einem geschlossenen Kreislauf, der einerseits schwer durchschaubar und andererseits, wenn durchschaut, nicht einfach zu verlassen ist. Wie gleich zu Beginn erwähnt, wir machen ein wechselseitiges Geschäft. Dieses Geschäft beruht in der Tiefe auf der Angst aller Protagonisten und dem dadurch bedingten Bedürfnis nach ständiger Bestätigung.

 

 

Darin kann aber auch die Chance des Durchbrechens liegen, indem man erkennt, dass nur Falsches immer wieder der Bestätigung bedarf, um nicht als falsch erkannt zu werden. Richtiges bestätigt sich durch sich selbst, es bedarf keines Zeugnisses, keiner Urkunde von außen.

 

Ein Mensch, der sich als Individuum erkennt und seinen höchst eigenen Weg zu gehen beginnt, wird beschimpft werden, wird ausgelacht werden, wird ausgegrenzt werden, wird für vogelfrei erklärt, genießt keinen Schutz mehr, verliert alle vermeintlichen Sicherheiten – doch er gewinnt eine unbeschreibliche Freiheit und erfährt zuletzt nichts als Glückseligkeit. Der Weg dorthin ist mit Schmerz, Trauer, Verlassenheit, Verfolgung und manchmal großer Verwirrung gepflastert. Das ist der hohe Preis für die Freiheit, der am Ende jedoch nicht einmal als Pfennigbetrag geachtet wird. So unendlich kostbar ist der Frieden, so golden ist die Weite, so diamanten die Wahrhaftigkeit, so jenseitig und jenseitig die Liebe!

 

Du musst sterben, um zu leben, sagen alle Weisen. Du musst für die hiesige materielle Welt zu einem Nichts werden, um in der spirituellen Welt als ein König aufzuerstehen. Ein König vielleicht im Bettlergewand, doch unendlich reich an Schätzen der Seele. Dies gelingt nur über den radikalen Prozess der Individualisierung, bei dem man keine Unterstützung findet, es sei denn, man findet für eine kleine Wegstrecke einen Meister. Der Meister, der selbst diesen Weg gegangen ist, kann kleine Hinweise geben, doch er kann nichts erleichtern oder abkürzen. Er kann manchmal trösten oder manchmal zornig fordern, er kann liebevoll und zartfühlend sein, wie auch kalt und schroff. Das ist seine Aufgabe zum Wohl der Pilger und Suchenden, die zu Beginn häufig Irritation doch am Ende nichts als Dankbarkeit empfinden.

 

- Bhajan Noam -    

 

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

 

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