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© 2015 Text und Fotos: Bhajan Noam

Das ist eine wunderbare und notwendige Einstimmung des Körpers, des Energiesystems, der Gelenke, Muskeln, Sehnen, Bänder, der Wirbelsäule, der Nervenbahnen und auch der Organe vor jeder Übungssequenz. Man betrachte nur einmal Hunde und Katzen, wie sie sich ausgiebig dehnen und strecken, bevor sie in Aktion gehen oder sich hinlegen. Dehnen ist erstens etwas Ganzkörperliches und zweitens etwas sehr Individuelles. Es sollte aus dem inneren Gefühl heraus und nach dem momentanen Bedürfnis geschehen. So sollte es auch immer mehr ein Zulassen und immer weniger ein Machen sein. Wir lassen uns die wertvolle Zeit, um in unseren Körper hineinzulauschen, was er momentan braucht und geben diesen Impulsen nach.

Dann dürfen wir uns dabei auch in unserem Atem spüren. Jedes Dehnen erzeugt eine Weite, und Weite im Körper ist immer Raum für den Atem. So lassen wir im Dehnen den Einatem zu und mit dem Lösen kann der Ausatem gehen. Mit jedem Einatem, kommt uns Sauerstoff für alle Zellen zu, kommt Prana, kommt Lebensenergie und Frische. Mit jedem Ausatem lassen wir alles Verbrauchte, alle Spannungen, alles, was nicht zu uns gehört, gehen. Wir können zunächst große und kräftige Dehnungen für die Extremitäten und den Rumpf durchführen, dann dürfen aber auch kleine, feinere Dehnungen geschehen. So werden wir uns allmählich ein immer tieferes Bewusstsein für den gesamten Körper und seine Funktionen erarbeiten. Es ist tatsächlich zu Beginn noch Arbeit, denn es verlangt unsere ständige Aufmerksamkeit. Doch diese Wachheit wird mit der Zeit und mit unserem Üben immer mehr zu unserem natürlichen Zustand. Irgendwann können wir uns die alte Verträumtheit, das Abgelenktsein, die Unkonzentriertheit, das Sprunghafte nicht mehr vorstellen.

 

Ein waches Gesammeltsein ist in Wahrheit ein völlig entspannter Zustand, in welchem wir alles so erfahren und erleben, so sehen und spüren, wie es wirklich ist. Wir erhalten eine klare Wahrnehmung über unseren Körper und dann auch über unser gesamtes Befinden, unsere Gefühle, über alles, was wesentlich und unwesentlich in unserem Leben ist, was Bedeutung hat und was wir loslassen können, was uns guttut und was für uns schädlich ist. – So können wir alleine schon beim Dehnen, wenn wir bewusst dabei sind, uns auf eine sehr elementare Weise erleben. Und wir besitzen zugleich damit ein einfaches Werkzeug, um schrittweise alles in uns zum Positiven zu verändern.

 

Zu jedem Üben und jeder Übung ist es von Vorteil, einige physiologische Gesetzmäßigkeiten zu kennen. Erfolge werden nicht zufällig erzielt und etliches können wir optimieren, wenn wir über die Wirkungsweisen bescheid wissen und feinfühlig und bewusst damit umgehen. 

 

Erstens: Dehnen, das Hauptelement der allermeisten Asanas, übt einen Reiz auf bestimmte Nervenrezeptoren, die Propriorezeptoren, innerhalb der Muskulatur aus. Über diese Rezeptoren und den Weg zu einem bestimmten Areal im Gehirn erfolgt auf den Dehnreiz der Impuls an den Muskel, sich zu entspannen. Das Wichtige hierbei ist, dass die Muskelfasern als Minimum etwa 15 Sekunden Dehnung erfahren müssen, um entsprechend zu reagieren. Dehnungen sollten also lange gehalten werden.

 

Zweitens: Jedes Dehnen erzeugt natürlicherweise einen Einatemimpuls. Zunächst wird es ein „Machen“ sein, wir Dehnen uns und atmen dabei ein. Später werden wir spüren: das Dehnen bewirkt den Einatem und der Atem bzw. Prana fließt genau in die gedehnten Bereiche. Dann wird es zu einem reinen Zulassen. Es erscheint uns sanfter, aber es ist weit wirkungsvoller. Machen ist immer noch Anspannung, Zulassen ist ein sich Öffnen in eine natürliche, entspannte Weite.

 

Drittens: Solange wie wir eine Dehnung halten, bewirkt dies reflektorisch auch das Anhalten des Einatems. Und in dieser Phase („Kumbhaka“ genannt) hat Prana die Gelegenheit, sich gezielt auszubreiten. Prana versorgt dann vermehrt die angeregten Bereiche mit lichtvoller Kraft.

 

Viertens: Nicht nur die Muskeln erfahren beim Dehnen Reize, sondern auch in direkter Weise die Nerven und die Meridiane oder Nadis. Der Dehnreiz bewirkt hier ein Öffnen von Blockierungen und damit einen optimierten Fluss von Nervenimpulsen bzw. einen vermehrten Energiestrom.

 

Fünftens: Ebenso wird das Bindegwebe stark beeinflusst. So können sich Verklebungen zwischen dem Bindegewebe und der Muskulatur, die neben Muskelverkürzungen die Hauptursache für Bewegungseinschränkungen sind – allmählich auflösen. Die Nerven- und Energiebahnen, die in diesem Zwischenbereich verlaufen, werden befreit und können wieder harmonisch tätig sein.

 

Sechstens: Sämtliche Organe erfahren durch die Dehnung, ins besondere durch den vertieften Atem und die Zwerchfellbewegung, eine lebendige Anregung. Je häufiger, bewusster und intersiver diese Anregung stattfindet, desto mehr führt sie zu einer Funktionsverbesserung des ganzen Organsystems.

 

Siebtens: Die Durchblutung und der Lymphrückstrom werden gefördert. So kommt einerseits eine verbesserte Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen und andrerseits eine verstärkte Entschlackung und Entgiftung in Gang.

 

Achtens: Das Endokrine System, unsere Drüsen, werden in ihrer Gesamtheit aktiviert, was sich wiederum ganzkörperlich auswirkt und auch unsere Stimmung positiv beeinflussen kann.

 

Neuntens: Die Wirbelsäule, unser zentrales „Organ“, von der sämtliche Nerven ausgehen, die unseren Körper bis in alle Zellen hinein mit Impulsen versorgen, wird allmählich wieder geschmeidiger, durchlässiger, tragfähiger und als unsere energetische Achse wahrgenommen.

 

Zehntens: Die Gelenke, die ja ein Ausdruck für unsere Beweglichkeit sind – nicht nur der körperlichen, auch der geistigen und emotionalen – erfahren durch unser Dehnen, einschließlich der sie umgebenden Kapseln und stabilisierenden Bänder, neue Weite und Flexibilität.

 

Elftens: Ein inneres sowie äußeres Thema ist die entstehende Weite, die wir immer mehr zulassen können – und dann auch genießen. Die Ausdehnung in den Raum, körperlich, energetisch und empfindungsmäßig, das innere Entdecken neuer Aspekte und Blickwinkel hierbei, vertieft unsere Sensiblität und erweitert unseren inneren wie äußeren Horizont. Die Weite, die wir der ganzen Fülle des Atems zur Verfügung stellen und die der Atem wiederum manifestiert und uns verdeutlicht, gibt unserem Leben eine neue Qualität, schenkt uns ein neues Verständnis, manchmal kraftvolle Energieschübe und ein sich steigerndes Wohlbefinden.

 

Zwölftens: Verbundenheit. – Ausdehnung bedeutet für uns immer auch ein Heraustreten aus der Isolation und ein sich Einlassen auf die kosmische Verbundenheit. Zuletzt werden wir erkennen, dass wir immer in dieser Verbundenheit sind, dass wir gar nicht anders existieren können, dass die gesamte Natur eine Einheit ist und nur unser Verstand sich bisweilen außerhalb davon wähnt.  

 

Mit diesen Betrachtungen bekommen wir einen kleinen Eindruck einerseits von der unglaublichen Vielfalt und andererseits von der wundervollen Einheit unseres Körpers. In ihm ist alles mit einander vernetzt und reagiert fein auf einander abgestimmt. Ein scheinbar schlichtes Dehnen erhält so eine weitaus tiefere Bedeutung. Eine ganz andere Dimension erschließt sich uns. Und wir lernen allmählich, unserer Körper/Seele/Geist-Einheit – eingewoben in das kosmische Sein – mehr Wichtigkeit zuzumessen und ihr auch im sogenannten Alltag immer öfter unsere liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken. 

                                                                                                                

 

Eine einfache Ansage zum freien Dehnen

Dehnt den ganzen Körper von den Zehen bis in die Finger ganz nach eigenem Bedarf. Bezieht dabei den Atem mit ein. Jede Dehnung erzeugt Weite, und die erzeugt Raum für den Einatem. Lasst mit jeder Dehnung den Einatem einströmen und mit jedem Lösen den Ausatem gehen. Jeder Einatem bringt frischen Sauerstoff für die Zellen, bringt neue Energie, Prana, für den ganzen Körper. Sauerstoff und Prana nähren und erneuern die Zellen, bringen Kraft, Mut und Ausdauer. Ebenso wird der Geist erfrischt. – Jeder Ausatem trägt die Schlackenstoffe, alle Spannungen, alles Schwere, alles Überflüssige nach draußen. – Spürt, wo ihr Anspannungen habt, wo Blockaden in eurem Körper sind und lenkt besonders dort durch Dehnen den Atem hin. Lasst es immer mehr von innen heraus entstehen. Der Körper hat seine eigene Weisheit und nimmt sich, was er braucht. – Ruht euch danach gut aus. Lasst es nachwirken und spürt euch dabei: Was hat mir das Dehnen gebracht? Wo konnte ich loslassen? Was hat sich entspannt? Aber auch: Wo sitzt noch Anspannung? Was ist mir bei diesem Dehnen bewusst geworden, was ich vorher nicht gespürt habe? – Nehmt nun ein Nachdehnen für all die Bereiche, die noch nicht so gelöst sind. Gebt ihnen die Chance, sich ebenso zu entspannen.

- Bhajan Noam -  

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

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Kommentare

  • wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag, wie sehr oft bei deinen Beiträgen. Vielen Dank.

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