Braucht Yoga einen Gott?

© 2015 Text: Bhajan Noam

Braucht Yoga einen Gott oder Götter? Braucht Yoga Religion, z. B. den Hinduismus? Können ein Atheist, ein Agnostiker oder ein Gleichgültiger in der selben Weise Yoga üben wie ein gläubiger Mensch? Darf auch ein Christ oder ein Moslem Yoga praktizieren? Fragen, die nicht selten gestellt werden. Hier eine klare zweideutige Antwort dazu.

 

Menschen, die im klassischen Stil ganzheitlichen Yoga praktizieren, die sich also neben Hatha Yoga auch in Bhakti Yoga, Jnana Yoga, Raja Yoga, Kundalini Yoga, Prana Yoga und Karma Yoga üben, sehen oft in Shiva ihre höchste Yoga-Gottheit. Daneben aber kennen und verehren sie noch manche anderen Götter und Göttinnen mit unterschiedlichen Attributen. Ein großer bunter Pantheon steht ihnen zur Verfügung: Brahma, Krishna, Vishnu, Durga, Lakshmi, Kali, Sarasvati, Rama, Hanuman, Ganesha ...

 

Devi fragt:

O Shiva, was ist deine Wirklichkeit?

Was ist dies von Wundern erfüllte Universum? Was ist der Same?

Wer hält das Rad des Alls im Gleichgewicht?

Was ist dies Leben jenseits von Form, das alle Form durchdringt?

Wie können wir vollends hineingelangen?

Hinaus über Raum und Zeit, Namen und Bezeichnungen?

Schaffe meinem Zweifel Klarheit!

 

(aus dem Vigyan Bhairav Tantra)

 

 

Wer sind diese vielen Götter? Wer ist zum Beispiel Shiva? Shiva war ein großer Weiser, ein Menschheitslehrer wie Buddha oder Jesus, der vor etwa fünftausend Jahren über den indischen Erdboden gewandelt war, um seine Lehren zu verbreiten. Er hatte über Yoga in Form von Körper- und Atemübungen gesprochen, er hatte über Meditation und Philosophie gesprochen und der Menschheit schließlich das „Vigyan Bhairav Tantra“ vermacht, das Meisterwerk der Meditation, die vortrefflichen 112 Meditationstechniken. Von diesem Werk wird gesagt, dass es keine weitere Technik gibt und geben wird, die hier nicht beschrieben ist. Diese Meditationen sind für Menschen jeden Alters; sie galten in der Vergangenheit, sie gelten heute und sie werden in Zukunft gelten. Es wird auch gesagt, dass es unmöglich sei, dass jemand nicht seine für ihn geeignete Übungsweise hierin findet, die seinem Temperament und seiner geistigen Entwicklung entspricht. – Eine großartige menschliche Leistung!

 

Wie im Christentum der Rabbi und Menschheitslehrer Yeshua (Jesus) zum Gottessohn befördert wurde oder Gott gleich gestellt wird, obgleich er sich stets als unseren Bruder ausgab, so geschah und geschieht es auch in buddhistischen Gesellschaften mit Buddha. Was des Menschen Geist nicht begreift, das erhöht er, er setzt es auf einen Thron oder nagelt es an ein Kreuz. Shiva wurde auf einen der höchsten Himalayagipfel verfrachtet und muss sich dort bis in alle Ewigkeiten den Allerwertesten abfrieren.

 

Wahrer Yoga aber ist unabhängig von menschlichen Projektionen. Er vertraut den kosmischen Gesetzen und wirkt alleine durch sie hindurch. Der praktizierende Yogi erfährt das selige Sein im Augenblick, das ihn weder nach Irdischem noch nach Himmlischem verlangen lässt. Wer kann sagen, ob er nun ein Atheist oder ein Religiöser ist? Anfänger streiten sich um diese Dinge – der Weise hat alle Theorien auf dem Weg vergessen.

 

Andrerseits empfinde ich für Menschen, die in Fitnessstudios Power Yoga, Hot Yoga, Yoga Workout oder was auch immer üben, großes Mitgefühl. Ich sehe in ihnen eine traurige Leere, die ihnen niemand an diesen ‚Orten ohne Segen’ füllen kann. Da schwitzen getrimmte Muskelkörper und die Tränen der Seelen bleiben verborgen. Ich weiß, dass ihr Lachen kein Lachen ist und ihr Plappern Angst und Wut übertüncht. Ein Gott ist hier verpönt, er würde den schönen Scheinfrieden stören. Dennoch oder deshalb ist mein Mitgefühl fehl am Platz. Gott grämt sich nicht. Gott trauert nicht. Er weiß sie alle geborgen in seinem Licht. Und das Licht verrichtet seine Arbeit – gerade im Schatten, gerade in der Finsternis. Denn Licht bedarf des Lichtes nicht. Gesunde bedürfen des Arztes nicht. Die Heiligen darf Gott getrost vergessen. Die Vergessenen und die, die vergessen haben, ruft er auf seine Art, manchmal mit Krankheiten, manchmal mit Schicksalsschlägen, manchmal mit Zweifeln, manchmal mit Träumen und manchmal mit irgendwelchen kleinen Zufällen.

  

Ratschläge

(sie erübrigen sich an dieser Stelle für Hindus, Buddhisten und Juden, die bereits verstanden haben dürften, sei es vom Herzen her oder intellektuell)

 

Dem Atheisten sage ich:

„Fürchte dich ein bisschen vor Yoga. Yoga will dich zwar nicht von der Existenz eines Gottes überzeugen. Das liegt nicht in der Absicht von Yoga. Dennoch könnte dir nach einiger Zeit Göttlichkeit beim Praktizieren begegnen.“

 

Dem Christen sage ich:

„Fürchte dich ein bisschen vor Yoga. Yoga will dir zwar nicht dein Christsein nehmen. Das liegt nicht in der Absicht von Yoga. Dir könnte beim Praktizieren aber ein lebendiger Jesus in deinem eigenen Herzen begegnen, den du nicht mehr ans Kreuz bannen und nicht in die Kirche einsperren kannst.“

 

Dem Moslem sage ich:

„Fürchte dich kein bisschen vor Yoga. Yoga ist eine Erweiterung der fünf Gebete, die der Prophet dir empfahl. Und Yoga ist der wahre Dschihad, die Anstrengung, der Kampf, die Bemühung, der Einsatz auf dem Wege Allahs, auf dem großen Friedenszug des Islam.

 

 

Ich erzähle eine Geschichte über Ramakrishna:

 

Ramakrishna wurde in eine Brahmanen-Familie hineingeboren und war als junger Mann Priester in einem Tempel, welcher einer kastenlosen reichen Frau gehörte. Niemand wollte dort den Tempeldienst versehen, doch Ramakrishna hatte kein Problem damit, dass die Besitzerin zu den Unberührbaren gehörte. Außerdem hatte er sich unsterblich in die Göttinnenstatue dieses Tempels verliebt. Er betete sie bei Tag und bei Nacht an, er opferte ihr die kostbarsten Speisen, er brachte ihr die schönsten Blumen, er brannte für sie den süßesten Weihrauch ab. Doch wie es in einer Liebe so geht, manchmal war er auch böse mit ihr, er beschimpfte sie oder er war eifersüchtig. Dann schloss er sich tagelang mit ihr im Tempel ein und ließ keine Besucher herein.

 

War er außerhalb des Tempels unterwegs, fiel er oft in taumelnde Ekstase. Dann sah er seine Göttin in hellem Glanz vor sich – und er fühlte sich bereits erleuchtet. Eines Tages, als er in solcher Ekstase auf dem Marktplatz saß und die Göttin als leuchtende Erscheinung vor ihm schwebte, kam in unscheinbaren Wanderkleidern ein Meister auf der Durchreise vorbei. Er sah Ramakrishna, erkannte dessen Problem und schüttelte ihn aus der Meditation. „Wach auf, du Träumer“, schrie er ihn an, „willst du wirkliche Erleuchtung erfahren oder weiterhin von deiner Göttin träumen?“ Ramakrishna, der ein ehrlicher Mann war, sagte: „Ich habe auch bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Doch diese Göttin ist so stark, sie hat mich so in ihrer Gewalt, ich komme nicht aus ihrem Bann.“ Der fremde Meister antwortete: „Wenn du eine solche Kraft besitzt, dir eine Göttin vorzustellen, dann hast du auch die Kraft, dieses Trugbild wieder fortzuschicken. Ich will dir helfen. Du hast drei Tage Zeit, denn ich bleibe genau drei Tage in dieser Stadt. Danach wirst du womöglich keinen solchen Meister mehr finden. Wenn du willst, bewache ich dich. Du sitzt und meditierst, und wenn deine Göttin erscheint, gib mir ein Zeichen, dann werde ich dir helfen, sie loszuwerden.“ Er hob vom staubigen Erdboden eine Glasscherbe auf und sagte: „Wenn du mir das Zeichen gibst, ritze ich dir mit dieser Scherbe ins Dritte Auge, dann setze deinen ganzen Willen ein und schicke sie fort.“ Ramakrishna willigte ein. Er ging in Meditation und alsbald erschien seine Göttin in strahlenderem Licht denn je. Doch er gab dem Meister das Zeichen und dieser ritzte ihm ins Dritte Auge. Das Blut tropfte die Stirn, die Nase und die Wangen von Ramakrishna herunter. Seine ganze spirituelle Kraft aufbringend, löste sich alsbald die Erscheinung genauso schnell in ein Nichts auf, wie sie aufgetaucht war. Ramakrishna hob seine Lider, sah dem Meister lange in die seelenvollen Augen und wusste, jetzt war er angekommen.     

 

 

- Bhajan Noam -

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

 

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Kommentare

  • Vielen vielen Dank, Bhajan Noam, für diesen schönen Beitrag.

    Da fällt mir ein Spruch ein, von dem ich nicht mehr weiß, von wem er ist, doch das ist ja auch egal.

    "Jeder Mensch ist ein Buddha auf seinem persönlichen Weg zur Erleuchtung"

    Licht und Liebe für Alle
    Tina

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