Diesen Vers kann man auf verschiedenen Ebenen interpretieren. Ich will ihn hier auf eine praktische Ebene holen. Ist die Ursache der Bindung gelockert und sind die Kanäle bekannt, dann wirst du in der Lage sein, dich in einen anderen hinein zu versetzen. Wenn du selbst zu sehr in deinen eigenen Geist schwelgst, wenn du nur über dich selbst nachdenkst, wenn du an dich selbst verhaftet bist, dann ist es schwierig für dich, einen anderen Menschen zu verstehen. Patanjali gibt dir verschiedene Tipps, wie du das an dir selbst beobachten kannst. Zu Svadhyaya, diesem Selbststudium, gehören zu einem die wichtigen Aspekte des Kriya Yogas, zum anderen die Niyamas. Wenn du die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst übst und wenn du lernst, dass nicht jeder die Welt so sieht wie du, dann kannst du dich leichter in andere hineinversetzen.
Die meisten Menschen sehen andere durch die eigene Brille, ohne es zu merken. Die eigene Brille ganz abzulegen, ist auch so gut wie unmöglich. Das kann vielleicht ein selbstverwirklichter Meister, aber im Alltag ist das recht schwierig. Trotzdem kannst du erkennen, was deine normale Brille ist. Und du kannst immer mehr probieren, diese Brille etwas abzulegen. Du kannst üben, die Welt aus den Augen eines anderen zu sehen. Du kannst erkennen, dass es verschiedene Weisen gibt, die Wirklichkeit zu sehen. Wenn du das erkennst, dann hast du einen wichtigen Schritt gemacht, um andere Menschen zu verstehen.
Patanjali spricht hier außerdem von „bekannten Kanälen“. Kanäle sind Möglichkeiten, über die du mit anderen Menschen in Kontakt treten kannst. Kommunikation ist so ein Kanal. Es ist wichtig, mit anderen Menschen zu sprechen. Du solltest nicht zuviel Urteile und Annahmen über einen anderen Menschen treffen, ohne mit ihnen zu sprechen. Hier sind aber auch noch andere Kanäle gemeint. Du findest sie, indem du dich auf die Gedanken und Worte eines anderen Menschen konzentrierst und den anderen von deinem Herzen her erspürst. Dann entwickelst du ein Verständnis für den anderen, das weiter geht als die übliche Kommunikation. Lerne, dich in andere hineinzuversetzen. Lerne, von dir selbst zu abstrahieren. Lerne, deine eigene Brille immer mehr abzusetzen. Dann wirst du uneigennützige, bedingungslose Liebe empfinden können. Dies ist etwas sehr Freudevolles. Es ist ein großes Abenteuer und letztlich ist es sowohl eine Voraussetzung für spirituelle Entwicklung, als auch eine Folge von spiritueller Entwicklung.
Om Shanti. Hari Om Tat Sat
Transkription eines Kurzvortrages von Sukadev Bretz im Anschluss an die Meditation im Satsang im Haus Yoga Vidya Bad Meinberg. Mehr Yoga-Vorträge als mp3
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