Kommentar zur Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 3, Verse 5-9
Svatmarama schreibt: „Deshalb sollte der Yogi voll Enthusiasmus die Praxis der Mudras praktizieren, um die große Göttin zu wecken, die am Eingang zu Brahmas Tür schläft.“
Bedeutung der Sanskrit Worte:
Tasmat (deshalb) sollte der Yogi Abhyasa (praktizieren) Prayatnena (mit Anstrengung, Bemühung, Enthusiasmus) und Sarva (mit aller Anstrengung). Manchmal wenn du fortgeschrittenes Hatha Yoga übst, musst du dich bemühen, nicht immer ist es nur schön, manchmal ist es auch Disziplin. Nicht umsonst heißt Hatha auch Bemühung und Anstrengung. Gerade die Mudras bedeuten einiges an Geduld. Viele Menschen üben Mudras eine Weile und denken, Svatmarama übt sie über alle Maßen, so viel spüre ich gar nicht. Aber du musst durchhalten und letztlich weiter üben und praktizieren, und irgendwann merkst du, was für großartige Wirkungen sie haben. Es gilt also diese zu praktizieren.
Und so wirst du Prabhodhyetu (die Göttin erwecken). Die Göttin ist natürlich die Kundalini. Es ist wichtige, dass du mit Ehrerbietung praktizierst. Du machst nicht irgendwelche Übungen, um irgendein Feuer zu entzünden, sondern die Kundalini ist eine göttliche Kraft. Sie ist eben eine Göttin, die du durch Hingabe, durch Bhakti erwecken oder indem du sagst, die Pranayamas und Mudras sind meine Form der Gottesverehrung, meine Form von Gottesdienst – Puja.
Diese solltest du wecken und warum? Sie schläft (Supta) am Eingang (Mukha) von der Tür zu Brahman (Brahmadvara). Also wenn du zu Brahman kommen willst, zum Absoluten, dann musst du die Mudras praktizieren. Damit erweckst du die Kundalini und sie öffnet dir das Tor zu Brahman, zum Absoluten.
Bedeutung und Arten von Mudras
Welche Mudras gibt es? Es gibt sehr viele Mudras. Svatmarama spricht hier von 10 Mudras. Ich werde sie gleich erwähnen, sie sind ja im 6. und 7. Vers erläutert. Ein paar Worte zur Bedeutung von Mudra. Mudra wird oft als Siegel übersetzt, was etwas öffnet oder auch verschließt. Eine Mudra hilft, dass du Zugang bekommst zu etwas Subtilem. Wenn Svatmarama von Mudras spricht, dann sind es kombinierte Energielenkungs- und Erweckungsübungen. Typischerweise eine Verbindung von Atemübungen, Körperhaltungen, Konzentrationsübungen, Zungenübungen usw. Mit diesen Mudras soll eine große Wirkung auf den ganzen Körper erzielt werden.
Es gibt aber auch noch ganz andere Mudras wie die Fingermudras: das Chin Mudra, das Vishnu Mudra usw. Ich habe ja schon eine ganze Mudrareihe mit über 100 oder 200 Videos veröffentlicht, wo ich die Fingermudras vorgemacht und besprochen habe. Dann gibt es auch noch die sogenannten kleinen Mudras wie Zungenmudras, Augenmudras, Kehlmudras, Beckenbodenmudras, Bauchmudras, Rumpfmudras und Armmudras. Viele kleine Körperübungen um Auswirkungen auf das Prana zu haben. In der Hatha Yoga Pradipika werden aber 10 Mudras mit größeren Wirkungen beschrieben.
Vers 6: „Mahamudra, Mahabandha, Mahavedhas, cha Khechari, Uddyanam, Mulabandhash, Cha Bandho Chalandhara Bidaha“.
Vers 7: „Karane Viparitakhya Vajroli Shakti Chalanam, Idamhim Mudra Dashakam Chara Marana Nashanam.“
Die 10 Mudras
Hier spricht er also über die Mudra Dashaka (die Gruppe von Zehn, die Zehnheit der Mudras). Diese 10 Mudras sind: Mahamudra, Mahabandha, Mahaveda, Kecchari, Uddiyana, Mulabandha, Jalandarabandha, Viparita Karani, Vajroli, Shakti Chalana – manchmal auch Shakti Chalani genannt.
Einige davon kennst du schon. Im dritten Kapitel hat er auch schon von Uddhiyana Bandha Mudra, (das Hochziehen des Bauches) hilft, dass das Prana von unten nach oben strömt. Mulabandha ist der Wurzelverschluss, der dazu führt, dass Ida und Pingala im Muladhara Chakra mit der Sushumna verbunden werden und dass Apana Vayu nach oben strömt.
Jalandhara Bandha ist der Kehlverschluss, der verhindert, dass das Prana durch Ida und Pingala nach oben geht. Es führt dazu, dass die Sushumna geöffnet wird. Diese drei Bandhas verbindest du ja beim Pranayama und sie werden zusammen als Mahabandha bezeichnet.
Mahamudra ist eine besonders machtvolle Mudra, wo du ein Bein streckst und dann verschiedenen andere Hand-, Zungen-, Augenbewegungen machst, Atemübungen und Konzentration. Mahaveda ist das große Erwachen. Khechari hat etwas mit der Zunge zu tun. Viparita Karani ist eine Umkehrstellung. Vajroli wird manchmal als Übung des roten Tantras bezeichnet, wie du die Sexualenergie umkehren kannst. Es gibt aber auch andere Variationen von Vajroli Mudra, die letztlich das Prana in die Sushumna nach oben bringen. Shakti Chalana wörtlich das Bewegen, das In-Gang-bringen der Shakti, das Erwecken der Kundalini ist auch noch eine eigene, besondere Übung.
Mit diesen Maha Dashakan möchten wir uns in den nächsten Versen der Hatha Yoga Pradipika beschäftigen. Zunächst aber welche Wirkung hat Mudra Dashaka.
Warum man diese Mudras üben sollte sagt Svatmarama in der 2. Hälfte des 7. Verses: „Idam Mi Mudra Dashakam Chara Manana Nashanam“.
Das Sanskrit ist so schön in der Hatha Yoga Pradipika. Svatmarama ist auch ein Poet. Aber ich werde mich jetzt beherrschen und nicht zu sehr über die Schönheit der Sanskrit Sprache sprechen, sondern über den Inhalt:
Die Bedeutung der Sanskrit Worte
Idam (Dies) ist bekannt als Mudra Dashakam. Man übt diese, um ein Mittel zu haben zur Vernichtung (Nashana) von Alter (Jara) und Tod (Marana). Die Mudras wollen einem helfen über Alter und Tod zu siegen. Dies heißt aber nicht physische Unsterblichkeit, denn der Körper stirbt. Auch Svatmarama lebt heute zumindest nicht mehr im physischen Körper. Und damit ist aber auch schon klar, was Sieg über Alter und Tod heißt, dass du erfährst: Ich bin nicht der Körper und so weißt du, du bist unsterblich. Solange du denkst, du bist der Körper, wirst du sterben und bist dem Alter, Krankheit und dem Tod unterworfen. Aber die Erfahrung „ich bin nicht der Körper“ hilft dir, Alter und Tod zu überwinden. Daneben gilt auch in einem etwas wörtlicheren Sinn: Jemand, der Hatha Yoga intensiv praktiziert, hat eine Klarheit des Geistes, hat ein Prana, eine Lebensenergie, eine Offenheit, einen Enthusiasmus und eine Fähigkeit vieles zu ändern.
Vers 8: „Diese wurden von Shiva gewährt und verleihen die 8 Siddhis.“
Die ursprüngliche Hatha Yoga Pradipika kannte keine Verszählung. So ähnlich wie, wenn man einen Roman schreibt oder ein Wissenschaftler eine Abhandlung schreibt. Später wenn der Lehrer dem Schüler das beibringen will, dann gibt er dem ganzen Text Ziffern. Wir kennen dies auch in der Bibel. Manchmal gibt es auch unterschiedliche Ziffern: Vers…des … Kapitels. Heute haben sich Katholiken und Evangelische weitestgehend geeinigt, aber es gab Zeiten, in denen dies nicht so klar war. So findet man eine unterschiedliche Verszählung – manchmal wird eine Zeile in einem Doppelvers (shloka) gezählt und manchmal zu einem anderen. So wird z.B. in Swami V.'s Hatha Yoga Pradipika nur ein Halbvers zum 8. Vers gezählt, so wie oben beschrieben. Dafür ist der 9. Vers umso länger mit 3 Halbversen.
In einer anderen Ausgabe steht im 8. Vers: „Vom ersten Lehrmeister (Adinatha) wurde gesagt, dass die 8 übernatürlichen Kräfte aus der Praxis der göttlichen Mudras entstehen.“ Der 2. Halbvers, der noch dazu gehört: „Die Mudras sind geliebt von allen vervollkommnenden Wesen und sogar von den Göttern (Maruts) schwierig zu erlangen.“
Bedeutung der Sanskrit Worte
Adinatha uditam (Diese wurden von Shiva gelehrt). Damit will Svatmarama sagen, dass nicht er diese Mudras erfunden hat, sondern sie sind uralt und von Shiva selbst gegeben worden zusammen mit allen anderen Hatha Yoga Übungen. Und dann heißt es, sie sind Divya (göttlich) und Pradayaka (sie verleihen) Ashta Aishwarya (die 8 großen Herrlichkeiten). Die 8 großen Siddhis sind dann eben Anima (die Fähigkeit ganz klein zu werden), Mahima (die Fähigkeit ganz groß zu werden), Garima (die Fähigkeit ganz schwer zu werden), Laghima (die Fähigkeit ganz leicht zu werden), Prapti (die Fähigkeit alle Wünsche zu verwirklichen), Prakamya (unwiderstehlicher Wille), Ishitva (große Vornehmheit) und Vashitva (Beherrschung aller Dinge).
Die Siddhis
Du kannst sie auf unterschiedliche Weise interpretieren. Wir finden zum Teil Hanuman in der Ramayana, der all diese Siddhis hatte. Er konnte sich ganz klein machen und dann unter der Tür durchgehen. Er konnte sich riesengroß machen und dann diesen Berg auf die Hände nehmen. Hanuman konnte sich auch sehr schwer machen. Es gibt die berühmten Geschichten, ich glaube, es ist in der Mahabharata, wo Bhima seinen Halbbruder Hanuman trifft. Aber Hanuman hat die Gestalt eines alten Affen und Bhima voller Eingebildetheit befiehlt dem Affen aus dem Weg zu gehen. Der Affe bleibt sitzen oder liegen und dem Bhima gelingt es nicht einmal den Schwanz des Affen zu bewegen. Er ist so schwer. Und so lehrt der Hanuman dem Bhima eine Lektion. Laghima (ganz leicht, schweben) und so konnte Hanuman auch in der Luft fliegen.
Interpretation der Siddhis
Du kannst dies auch so interpretieren, dass du Anima sein kannst, dich klein machen kannst und anderen den Vortritt geben kannst und du dich nicht in den Vordergrund drängen musst. Aber du hast auch die Fähigkeit zu Mahima: wird eine Führungspersönlichkeit, Projektleiter(in) gebraucht und du weißt, es gibt niemand anderes, der es besser macht als du, dann übernimm die Verantwortung und werde Führungspersönlichkeit oder Projektleiter und steh auf. Garima: manchmal ist es angemessen auf deinem Standpunkt zu beharren. Luther stand einst vor dem Reichstag zu Worms und soll gesagt haben: “Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott stehe mir bei“. Er steht zu seiner Meinung egal, was geschieht. Aber manchmal muss man auch nachgeben und den Standpunkt des anderen annehmen und Laghima werden, also leicht werden. So sind dies die verschiedenen Fähigkeiten, die man bekommt, wenn man die verschiedenen Mudras übt.
Versuchung der Siddhis
Swami V. legt in seinem Kommentar einen gewissen Wert darauf, dass wir uns nicht zu sehr mit diesen Siddhis beschäftigen. Es ist auch wie eine Versuchung. Wenn du viel praktizierst, hast du viel Prana und könntest andere beeindrucken. Du könntest Gegenstände schweben lassen, du könntest andere heilen, du könntest über Telepathie wissen, was in den Gedanken der anderen vorgeht. Du kannst Auras lesen, kannst in die Zukunft schauen, kannst auf Astralreisen gehen, kannst in Kontakt treten mit Feinstoffwesen usw. Das kann auch gefährlich werden. Es kann dich zum einen zur Arroganz verleiten und du musst wissen, auch in den feinstofflichen Wesen sind nicht alle wirklich Engelswesen. Selbst die Engel sind deshalb Engel, weil sie noch nicht die Vollkommenheit erreicht haben. Die Engel helfen Menschen so lange sie auf den Anfangsstufen sind. Aber wenn du in höheren Ebenen bist, können die Engel dich in Versuchung führen.
Die indischen Schriften sind voll von Geschichten und Mythen, wo ein Yogi große Herrschaft über den Geist bekommt und dann wird Indra, der König aller Götter alarmiert und denkt, jetzt muss ich etwas tun, um ihn in Versuchung zu führen. Und dann schickt Indra dieser Person eine himmlische Nymphe. Der Yogi wird vielleicht durch die Schönheit verführt und vergisst seine Yoga-Praktiken. Oder es kommt jemand und spricht despektierliche Bemerkungen. Dann wird der Yogi plötzlich ärgerlich und verliert so seine Kräfte. Es gibt viele andere Weisen, wie Indra oder andere Devas den Yogi in Versuchung führen können. Sei dir also bewusst, wenn du besondere Kräfte bekommst, kann dies ablenken und eine Versuchung sein. So wurde insbesondere Swami V. nie müde zu sagen: „Lasst euch nicht von Siddhis in Versuchung führen.“
Hier sagt er auch noch: „Die Mudras werden von allen vollkommenen Wesen geliebt und sind sogar von den Maruts schwer zu erlangen.“ Maruts sind die Windgötter oder andere, die schon Yoga praktizieren. Es geht ja darum Prana zu beherrschen, Prana ist auch der Wind. Man könnte auch sagen, was durch Pranayama nicht zu erreichen ist, das geht durch die Mudras. Er will uns also den Mund wässrig machen die Mudras wirklich zu üben.
Vers 9: „Die Techniken der Mudras sollen sorgfältig geheim gehalten werden wie eine Truhe voller Juwelen. Mit niemandem soll darüber gesprochen werden, genauso wenig wie über den Sex mit einer Frau aus guter Familie.“ Swami V. hat hier noch eine andere Ausdrucksweise: „Sie sollte sorgfältig geheim gehalten werden wie eine Schatztruhe voll mit Diamanten und niemanden verraten werden, genauso wie das illegitime Verhältnis mit einer verheirateten Frau aus gutem Hause.“
Svatmarama gebraucht an mehreren Stellen in der Hatha Yoga Pradipika eine leicht anzügliche Sprache. Zum Teil hat er die Absicht, dass die nicht ernsthaften Aspiranten sich daran festhalten und dann vielleicht voller Empörung nicht weiterlesen. Sie sind zum Teil wie eine Versuchung, wie ein Test.
Sorgfältige Auswahl der Mudras für die Praktizierenden
Aber worum geht es jetzt insbesondere: Man soll die Mudras geheim halten, nicht allen weitererzählen. Wenn es um fortgeschrittene Techniken des Hatha Yoga geht, muss man schauen, wem man was gibt. Nicht umsonst lernst du bei der Yoga Vidya Yogalehrerausbildung nicht Mudras, Bandhas und fortgeschrittene Pranayamas anzusagen, sondern du lernst sie selber auszuführen. Willst du diese lehren, dann musst du auch eine bestimmte Weiterbildung mitmachen wie „Unterrichten von fortgeschrittenem Pranayama und Kundalini Yoga“. Dort lernst du auch wer für diese fortgeschrittenen Techniken bereit ist. Jesus hat ja schon den Ausdruck geprägt: „Wirf nicht die Perlen vor die Säue“. So sei dir also bewusst, die fortgeschrittenen Mudras sind eben für fortgeschrittene Aspiranten gedacht und nicht für Anfänger.
Trotzdem übe diese 10 Mudras und du wirst wunderbare Wirkungen haben und sie helfen dir für die Meditation und die höheren Bewusstseinsebenen. Ich werde jetzt in den weiteren Vorträgen die weiteren Mudras des 3. Kapitels behandeln. Aber ich werde sie nicht so sorgfältig beschreiben, dass du sie mitmachen kannst. Die Mudras kannst du z.B. beim 2-wöchigen Sadhana Intensiv lernen, welches ich in der 2. Junihälfte gebe, oder auch im Kundalini Yoga Fortgeschrittene, die wir bei Yoga Vidya im Sommer oder zwischen den Jahren haben. Ich werde sie andeuten und die Wirkungen wie sie in der Hatha Yoga Pradipika beschrieben werden, erzählen. Aber für ein genaueres Lernen musst du schon selbst in den Ashram kommen, z.B. nach Bad Meinberg.
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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