- Vers
ब्रह्मादयोऽपि त्रिदशाः पवनाभ्यासतत्पराः ।
अभूवन्नन्तकभ्यात्तस्मात्पवनमभ्यसेत् ॥३९॥
brahmādayo’pi tri-daśāḥ pavanābhyāsa-tat-parāḥ… abhūvann antaka-bhayāt tasmāt pavanam abhyaset
brahma : (dem Schöpfergott) Brahma; ādayaḥ : angefangen mit; api : sogar; tri-daśāḥ : (die) Götter („dreißig, drei-mal-zehn“); pavana : (des Lebens-)Windes; abhyāsa : (hinsichtlich der) Praxis, Übung; tat-parāḥ : ganz hingegeben, eifrig bemüht; abhūvan : waren, wurden; antaka : (vor dem) Tod; bhayāt : aus Furcht; tasmāt : daher, deshalb; pavanam : (in der Zügelung, Beherrschung des Lebens-)Windes; abhyaset : man übe sich
Sogar die 30 Götter, beginnend mit Brahma sind, aus der Angst vor dem Tod, süchtig nach der Praxis des Pranayama geworden. | Deshalb soll der Yogi Atemübungen (Pranayama) praktizieren.
Svatmarama schreibt:
Ein wiederkehrendes Thema ist der Inhalt dieser Verse.
Brahma und die Götter wurden, indem sie sich der Praxis des Pranayama hingaben, vor der Angst vor dem Tod befreit. Man sollte es praktizieren. Wenn der Atem angehalten ist, solange der Geist fest und beständig ist, solange das Auge zur Mitte der Augenbrauen gerichtet ist, warum sollte man den Tod fürchten?
Ein wiederkehrendes Thema in der Hatha Yoga Pradipika ist die Angst vor dem Tod. Menschen haben in allen Zeiten Angst vor dem Tod gehabt. In unserer heutigen Gesellschaft wird die Angst vor dem Tod eher ins Unterbewusste verdrängt. Menschen verdrängen den Tod und sie denken, Tod betrifft mehr die anderen.
Wir leben mittlerweile länger als es zur Zeit von Svatmarama der Fall war. Wir leben 2017 in Mitteleuropa in einer Gesellschaft, wo es seit 1945 keinen Krieg mehr gegeben hat. Mord und Totschlag sind verhältnismäßig selten. Epidemien oder Naturkastrophen mit tausenden von Toten sind selten heutzutage. Wenn Tote sterben, werden sie im Krankenhaus oder im Hospiz untergebracht, so dass man es nicht ganz so stark merkt. Die Furcht vor dem Tod wird mehr ins Unterbewusstsein gebracht, denn jeder Mensch merkt, dass er doch irgendwann sterben muss.
Auf der anderen Seite hat der westliche Mensch eine eigenartige Besessenheit vom Tod. Er hört sich gerne Nachrichten von Tod in anderen Weltregionen an oder schaut im Fernsehen Todesgeschehen an. Der Mensch mag Krimis anzuschauen und Kinofilme, in denen viele Menschen sterben.
Der Tod ist etwas Exotisches und betrifft einen selbst erst einmal nicht. Aber es gibt eine unterbewusste Furcht vor dem Tod, die immer dann ausbricht, wenn er dann plötzlich ins Leben kommt.
Als spiritueller Lehrer bin ich immer wieder erstaunt, dass jemand, wenn er die Diagnose Krebs bekommt, plötzlich an allem zweifelt, was bisher war. Als ob er nie damit gerechnet hätte, dass er jemals eine Krankheit bekommen könnte, die lebensbedrohend ist.
Man könnte sagen, Svatmarama war realistischer. Er wusste, dass der Tod jeden betreffen kann. Zwar kann man durch die Veränderung des Lebensstils eine Menge machen; wenn du Yoga übst und vegetarisch lebst, auf Alkohol und Zigaretten verzichtest, ist deine Lebenserwartung um einige Jahre, vielleicht sogar ein bis zwei Jahrzehnte länger, als würdest du ungesund leben.
Trotzdem ist nicht alles in unserer Kontrolle. Man ist der Annahme, dass etwa die Hälfte von Krebs mit beeinflusst werden kann durch Lebensstilfaktoren. Aber die andere Hälfte sind zufällige genetische Mutationen, die auftreten, egal wie du lebst. Krebs kann einen Menschen, der absolut gesund lebt, im Alter von 15, 25, 35, 45 oder 55 Jahren betreffen. Daran kann man nichts ändern. Das gehört zum Leben dazu.
Es wäre klüger, sich bewusst zu machen, dass dein Leben morgen zu Ende sein kann. Das ist etwas ganz Natürliches. Beim nächsten Arztbesuch könnte dir die Diagnose einer unheilbaren und tödlichen Krankheit gestellt werden. Das soll dich nicht mit Todesfurcht anreichern, sondern deutlich machen, dass der westliche Mensch das, was Svatmarama hier anspricht, verdrängt hat. Umso stärker überwältigt es einen Menschen, wenn er merkt, dass seine Vorstellung, sich vor dem 80. oder 90. Geburtstag keine Gedanken über den Tod machen zu müssen, unrealistisch ist.
Unter 150 Menschen einer gemischten Bevölkerungsgruppe stirbt typischerweise ein Mensch pro Jahr bis zum 70. Lebensjahr. Die Frucht vor dem Tod ist nicht so weit weg. Andere Zivilisationen gehen wesentlich offener damit um als unsere.
Wie kann man die Furcht vor dem Tod überwinden?
Im 39. Vers heißt es, dass auch die Tridasha (30 Götter, bestimmte Devas wie z.B. Indra, Varuna, Agni usw., insbesondere Adaja, angefangen mit Brahma, dem Schöpfergott) Pranayama geübt haben.
Das muss man sich jetzt nicht so vorstellen, dass sie die Luft angehalten haben, denn bei den Feinstoffwesen gibt es keine physische Luft. Sie beherrschen Prana, die Lebensenergie. Wer die Lebensenergie beherrscht, braucht keine Angst vor dem Tod zu haben.
Sie haben die Praxis des Pavana geübt, die Praxis des Lebenswindes bzw. von Prana. Sie haben Tatpara geübt, sich eifrig bemüht. Die Bemühung bestand darin, Prana unter Kontrolle zu bekommen und dadurch Antaka Bhaya (die Furcht vor dem Tod) zu überwinden.
Svatmarama sagt: „Deshalb sollte man Pavana Abhyasa üben“, die Beherrschung des Lebenswindes bzw. der Lebensenergie.
Es gibt den Mythos, dass die Götter und Engel letztlich zu Göttern und Engeln wurden, weil sie viel Pranayama geübt haben. Indem du Pranayama übst, lernst du den physischen Körper zu überwinden.
So könnte man diesen Vers interpretieren: Übe viel Pranayama und du merkst, du bist nicht der physische Körper. Wenn du viel Pranayama übst, merkst du, dass dein Astralkörper weit über den physischen Körper hinausgeht. Du nimmst Pranawelten, Feinstoffwelten wahr und wirst merken: dieser physische Körper ist eigentlich nur ein Kleidungsstück, ein Fahrzeug auf dem Weg. Es ist manchmal ein beengendes, manchmal ein auf deine Fähigkeiten reduzierendes Fahrzeug.
Wenn du erst einmal merkst, dass du auf der Energieebene und der geistigen Ebene viel mehr bist, dann brauchst du keine Angst mehr vor dem Tod zu haben, sondern du weißt, dass der Tod eine Befreiung von der Materie ist.
Das ist eine Interpretation des 39. Verses: Durch eine Herrschaft über das Prana, überwindest du die Grenzen des physischen Körpers. Dann kommst du in eine Seinsebene hinein, die einem sehr viel an Erfahrungen ermöglicht. Man erfährt, was man bewirken kann, ohne sich um den physischen Körper zu kümmern.
- Vers
यावद्बद्धो मरुद्देहे यावच्चित्तं निराकुलम् ।
यावद्दृष्टिर्भ्रुवोर्मध्ये तावत्कालभयं कुतः ॥४०॥
yāvad baddho marud dehe yāvac cittaṁ nirākulam… yāvad dṛṣṭir bhruvor madhye tāvat kāla-bhayaṁ kutaḥ
yāvad : solange; baddhaḥ : angehalten („festgebunden“) wird; marut : (der) Atem, Prana („Wind“); dehe : im Körper; yāvat : solange; cittaṁ : (der) Geist; nir-ākulam* : ruhig, klar („nicht verwirrt“) ist; yāvat : solange; dṛṣṭiḥ : (der) Blick (ruht); bhruvoḥ : beiden Augenbrauen; madhye : zwischen („in der Mitte“); tāvat : während dieser Zeit („genau solange“); kāla : (vor dem) Tod („Zeit“); bhayaṁ : Furcht; kutaḥ : woher (sollte kommen)
So lange der Lebenshauch im Körper gebunden ist, der Geist klar ist, | so lange der Blick in der Mitte der Augenbrauen ist, wo ist die Furcht vor dem Tod?
*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda erklärt Nirakula („nicht verwirrt“) mit „nicht zerstreut, nicht (a-) unaufmerksam“ (Vikshipta), „konzentriert“ (Samahita): nirākulam avikṣiptaṃ samāhitam.
Der 40. Vers sagt:
Solange der Atmen angehalten ist, solange der Geist fest und beständig ist, solange das Auge zur Mitte der Augenbrauen gerichtet ist, warum sollte man den Tod fürchten?
Wenn man das Prana im Körper hält (baddho marud dehe), solange ist man nicht tot. Solange du Pranayama übst, kannst du das Prana im Körper halten und brauchst nicht sterben. Du kannst das Prana aus dem Körper hinaus bringen. Beim Üben von Pranayama, bist du nicht beschränkt auf den physischen Körper. Du kannst dein Prana im physischen Körper haben, du kannst aber aus dem physischen Körper austreten. Du brauchst keine Angst zu haben, deinen Körper zu verlassen.
Solange du Pranayama übst, ist der Geist ruhig und klar (chittam nirakulam), nicht verwirrt und nicht zerstreut. Wenn du in der Lage bist, den Geist ruhig zu machen, brauchst du vor nichts Angst zu haben. Mit Pranayama hast du eine Herrschaft über das Prana und eine Herrschaft über den Geist.
Wenn du den Blick auf den Punkt zwischen den Augenbrauen richtest (drishtir bhruvor madhye), kann dein Geist zur Ruhe kommen. Drishti kann bedeuten, dass du die Augen nach oben bringst. Zudem kann damit gemeint sein, deine ganze Sichtweise zum Ajna Chakra zu bringen. Dieses Chakra steht für Intuition, eine höhere Erkenntnis und es meint die Gotterkenntnis. Wenn du deinen Geist auf die höheren Ideale, das Göttliche richtest, brauchst du keine Furcht vor der Zeit (kala bhayam) zu haben. Du musst keine Angst haben, dass dir mit der Zeit alles Mögliche passiert, dass dir alles weggenommen wird und dass du irgendwann stirbst.
Mit anderen Worten: Mit Pranayama befreist du dich von den Wechselfällen des Lebens. Das ist nicht nur der Tod. Auf der physischen Ebene des Lebens gibt es viele verschiedene Wechselfälle: Mal gehen Dinge gut, mal gehen sie schlecht. Mal bekommst du, was du willst. In einem anderen Fall bekommst du es nicht. Menschen sind mal nett und mal unfreundlich. Mal ist der Körper gesund, mal weniger gesund. Mal stirbt jemand in deiner Umgebung, mal hast du eine Erkrankung, die auch tödlich sein könnte. So kann es weiter gehen.
Pranayama löst dich davon. Du löst dich auf dreifache Weise:
Du erfährst dich selbst, dass du mit deinem Astralkörper über den physischen Körper hinausgehen kannst. Du erfährst Prana, die Lebensenergie, unabhängig vom physischen Körper.
Du lernst, deinen Geist ruhig zu halten, unabhängig von den äußerem Umständen. Wenn du erst einmal gelernt hast, dass es dir nichts ausmacht, wenn du kritisiert wirst, Dinge schief gehen, deine Wünsche nicht erfüllt werden, hast du sehr viel an Freiheit erlangt. Diese Unabhängigkeit des Geistes von äußeren Umständen kannst du durch Pranayama erreichen.
Eine Konzentration auf das Ajna Chakra bedeutet im übertragenen Sinne die Ausrichtung auf Gott. Letztlich ist dieses alleine das wichtigste.
Pranayama kann entscheidend dabei helfen, zur Freiheit zu kommen. Solange das Prana beherrscht wird, der Geist Festigkeit erlangt und dein Blick ausgerichtet ist zum Punkt zwischen den Augenbrauen und damit zum Göttlichen, brauchst du keine Angst zu haben vor der Zeit, die alles verändert.
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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