1. Vers

युवो वृद्धोऽतिवृद्धो वा व्याधितो दुर्बलो.पि वा
अभ्यासात् सिद्धिम् आप्नोति सर्वयोगेष्व् अतन्द्रितः ॥६७॥

 

yuvā vṛddho’tivṛddho vā vyādhito dur-balo’pi vā… abhyāsāt siddhim āpnoti sarva-yogeṣv atandritaḥ

 

yuvā : (ob) jung; vṛddhaḥ : erwachsen, alt; ati-vṛddhaḥ : sehr alt; vā : oder; vyādhitaḥ : krank; dur-balaḥ : schwach; api : aber, auch, sogar; vā : oder; abhyāsāt : durch Übung, regelmäßige Praxis; siddhim* : Erfolg, Vervollkommnung; āpnoti : (man) erreicht; sarva : (in) allen; yogeṣu** : Yoga(techniken), Gliedern des Yoga; atandritaḥ : (ein) unermüdlich, unverdrossen (Praktizierender)

Jung, erwachsen oder alt, krank oder sogar schwach, | durch Praxis ohne Ablenkungen kann [jeder Mensch] in allen Techniken des Yoga Perfektion erreichen.

 

*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda erklärt, dass man aufgrund der Übungspraxis (Abhyasa) Erfolg (Siddhi) in Form (Rupa) der Frucht (Phala) des Samadhi erlangt (āpnoti): abhyāsāt … siddhiṃ samādhi-tat-phala-rūpām āpnoti. Ein Synonym für Samadhi ist der Begriff Raja-yoga („königlicher Yoga„), vgl. die Anm. zu Vers 70 sowie die Verse 3-4 des 4. Kapitels, wo weitere Bezeichnungen für den „höchsten Zustand“ aufgeführt werden.

** Anmerkung: Brahmananda versteht unter Yoga hier die einzelnen Glieder (Anga) des (Hatha-)Yoga: sarveṣu yogeṣu yogāṅgeṣu (vgl. Vers 58).

 

Übung macht den Meister, Übung macht die Meisterin.

Hatha Yoga ist ein Weg der Praxis. Der Yoga bedingt, dass du übst. Hatha Yoga ist vielleicht der Yogaweg, wo es am Wichtigsten ist, dass du dir jeden Tag Zeit nimmst.

Du könntest sagen: Jnana Yoga ist der Yoga der Erkenntnis. Das ist eine Veränderung des Blickwinkels.  Bhakti Yoga ist der Yoga der Hingabe, wo du alles Gott darbringst. Beim Karma Yoga transformierst du deinen Alltag in uneigennützigen Dienen und gehst davon aus, was immer geschieht, kommt als Aufgabe Gottes zu dir. Es ist ein verhaftungsloses Dienen.

Im Hatha Yoga gilt es zu praktizieren.

Svatmarama schreibt:

„Jede Person, wenn sie aktiv Yoga praktiziert, wird die Vollkommenheit erreichen.“

Übe und praktiziere! Im Grunde genommen gilt:

Egal ob du jung bist oder alt oder sehr alt, ob du gesund bist, kränklich oder krank: Jeder kann Erfolg im Hatha Yoga haben. Hatha Yoga ist nur eine Frage der Übung. Du kannst nicht zu steif sein für Hatha Yoga, du kannst nicht zu dick, dünn, groß, klein, alt oder zu jung sein. Es gilt, du musst üben. Jeder kann üben, der seinen Körper bewegen kann.

In diesem Sinne kommt die Vollkommenheit durch die Praxis. Vollkommenheit stellt sich mit Sicherheit ein, wenn jemand Yoga praktiziert. Dies kann nicht geschehen, wenn jemand nicht praktiziert.

 

  1. Vers

क्रियायुक्तस्य सिद्धिः स्यादक्रियस्य कथं भवेत्
शास्त्रपाठमात्रेण योगसिद्धिः प्रजायते ॥६८॥

 

kriyā-yuktasya siddhiḥ syād akriyasya kathaṁ bhavet… na śāstra-pāṭha-mātreṇa yoga-siddhiḥ prajāyate

 

kriyā : (mit der Yoga-)Praxis („Tätigkeit“); yuktasya : (dem,) der aktiv („verbunden“ ist); siddhiḥ : Erfolg, Vollkommenheit; syāt : wird zuteil („sei“); akriyasya : (dem) Untätigen (Erfolg zuteil werden); kathaṁ : wie; bhavet : sollte; na : nicht; śāstra : (der) Lehrtexte, (Yoga-)Schriften; pāṭha : Lesen, Rezitieren; mātreṇa : durch bloßes; siddhiḥ : Erfolg, Vollkommenheit; prajāyate : entsteht, wird erzeugt

 

Perfektion stellt sich mit Sicherheit ein, wenn jemand sich mit der Praxis beschäftigt. Wie könnte dies [auch] jemandem geschehen, wenn er nicht praktiziert? | Die Perfektion im Yoga [kommt] nicht durch bloßes Studieren der Schriften.

 

Anmerkung: Dieser Vers wird hinsichtlich seiner Grammatik und Metrik ausführlich im Sanskrit Kurs Lektion 33 behandelt.

 

In diesem Vers sagt Svatmarama:

„Einer, der praktiziert wird die Vollkommenheit erlangen, aber keiner der faul ist.“ Die Vollkommenheit im Yoga wird auch nicht durch bloßes, theoretisches Lesen der Schriften erlangt. Es reicht nicht aus, die Hatha Yoga Pradipika zu lesen. Es reicht nicht aus, Vorträgen zu lauschen, Das Üben ist wichtig. Die ganzen Bücher, Videos und Audios, dienen nur dazu, dass du inspiriert wirst für deine Praxis.

Swami Sivananda, der große Yogameister, hat gerne gesagt: „Ein Gramm Praxis ist besser als Tonnen von Theorie.“

Es wurde ihm die Frage gestellt: „Warum Meister, wenn ein Gramm Praxis besser ist als Tonnen von Theorie, hast Du so viele Bücher geschrieben?“

Swami Sivananda hat mehrere hundert Bücher geschrieben. Nach neuester Zählung sind das 500 verschiedene Bücher.

Warum hat er so viele Bücher geschrieben?

Swami Sivananda hat gelächelt und hat geantwortet: „Viele Menschen brauchen Tonnen von Theorie, um zu einem Gramm Praxis inspiriert zu werden.“

Die Bücher, Vortragsvideos und Audios zum Vortrag tragen dazu bei, dass du verstehst, warum du praktizieren kannst, wie du praktizieren kannst und letztlich, was die verschiedenen Erfahrungen zu bedeuten haben. Bücher lesen und Vorträge anhören ist nur in dem Maße hilfreich, wie es dich zur Praxis motiviert.

 

  1. Vers

वेषधारणं सिद्धेः कारणं तत्कथा
क्रियैव कारणं सिद्धेः सत्यम् एतन् संशयः ॥६९॥

na veṣa-dhāraṇaṁ siddheḥ kāraṇaṁ na ca tat-kathā… kriyaiva kāraṇaṁ siddheḥ satyam etan na saṁśayaḥ

na : nicht; veṣa : (bestimmter) Kleidung; dhāraṇaṁ : (das) Tragen; siddheḥ : des Erfolges, der Vollkommenheit; kāraṇaṁ : (ist die) Ursache; na : nicht; ca : und, auch; tad : darüber; kathā : Gespräch(e), Unterhaltung(en); kriyā : Handlung, Tätigkeit, (die Yoga-)Praxis; eva : nur, einzig; kāraṇaṁ : (ist die) Ursache; siddheḥ : des Erfolges, der Vollkommenheit; satyam : (die) Wahrheit; etad : das (ist); na : nicht (besteht hierüber); saṁśayaḥ : (ein) Zweifel

[Auch] das Tragen der [orangefarben] Kleidung [eines Yogis], noch das Sprechen [darüber], [reicht] nicht als Ursache [für den Erfolg]. | Die Praxis alleine ist die Ursache der Perfektion. [Über] diese Wahrheit [besteht] kein Zweifel.

 

Vollkommenheit wird nicht erlangt, indem du das Gewand eines Yogis trägst und nur darüber redest. Ein unermüdliches Praktizieren ist das Geheimnis des Erfolges. Darüber gibt es keinen Zweifel. Anscheinend gab es schon zu Svatmaramas Zeit Menschen, die sich so gekleidet haben, wie die Yogis.

Ich erinnere mich an folgende Situation, die in diesem Kontext zutreffend ist. 1985 habe ich ein Yogazentrum in Los Angeles geleitet. Eines Tages kam eine Teilnehmerin zu mir in das Center. Sie möchte gerne Yogakleidung, eine Yogamatte und ein Yogakissen kaufen. Sie war in dem Vorhaben eine komplette Yogaaustattung zu erwerben. Ich fragte sie, welche Art Yoga sie praktiziert, um ihr eine entsprechende Beratung geben zu können. Ihr Antwort darauf war, dass sie es noch nicht weiß. Sie wird ganz sicher mit Yoga anfangen. Zuerst möchte sie sich mit den benötigten Yogautensilien eindecken und dann mit Yoga beginnen. Das war ihr Vorhaben. Sie wollte Decken, Kleidung, Kissen, eine Matte und alles weitere zum Yogaüben direkt kaufen. Sie hat für uns damals einen enormen Geldbetrag für diese Yogaausstattung ausgegeben. Im Nachhinein ist sie nicht wieder zum Yogaüben erschienen. Ein paar Monate später habe ich sie auf der Straße getroffen und gefragt, wie es mit ihrer Yogapraxis voran geht. Sie hat nur gelacht und gesagt, sie nimmt es sich immer noch vor, mit dem Yogaüben anzufangen.

Mein Tipp wäre, verschwende nicht zu viel an Überlegung, welche Kleidung du tragen sollst, welche Yogamatte für dich in Frage kommt und welches Kissen für dich am besten geeignet wäre. Es ist besser mit dem Yogaüben direkt zu starten. Fange an zu üben und übe jeden Tag.

Natürlich kann eine spezielle Yogakleidung helfen, dass du in einen Yogamodus hineinkommst, wenn du dich vor deiner Praxis umziehst und deine Alltagskleidung ablegst. Es kann helfen, dich auf die Yogasituation einzustimmen und dich auf deine Praxis vorbereiten.

Ich habe einmal gehört, dass ein Yogalehrer seinen Schülern gerne gesagt hat, wenn sie gefragt haben: „Was soll ich denn üben?“ Seine Antwort zu dieser Fragestellung war einfach: „Lege deine Matte aus.“ Wenn man die Matte ausgebreitet hat, wird man anfangen zu praktizieren. Jemand, der schon eine Weile Yoga geübt hat, weiß welche Übungen aus dem Yoga für ihn in Frage kommen. Er weiß, was er üben sollte an Asanas und an Pranayama. Breite zunächst deine Matte aus und fange an. Es kann hilfreich sein, eine Matte zu haben und die Kleidung zu wechseln. Zur Vorbereitung auf deine Praxis ist es gut. Du kannst mit solchen Ritualen in den Yogamodus wechseln von deinem Alltag. Aber die Yogakleidung und die Yogamatte sowie eine komplette Yogaausstattung an sich machen noch keine Vollkommenheit.

Ebenfalls reicht kein reines Unterhalten über Yoga als Thema aus. Gespräche sind gut, zum Austausch und zur Wissensaneignung sicherlich sehr förderlich, aber nicht ausreichend, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Viele Menschen halten Vorträge über die Yogapraxis. Nach der Frage, ob sie selbst praktizieren, kommt oft ein betretenes Schweigen. Nicht immer ist dies der Fall, aber es kommt durchaus nicht selten vor. Noch schlimmer ist es, wenn Menschen vor dem Üben von Pranayama warnen, obgleich sie unwissend sind und selbst nie Pranayama praktiziert haben. Insbesondere zählt dazu das Üben von fortgeschrittenem Pranayama. Diese Menschen kennen es vielleicht nur aus der Literatur oder durch andere Erzählungen. Mit einer eigenen Erfahrung kann nicht gedient werden.

Es ist gravierender über angebliche Gefahren des Yoga auszusagen, obwohl kein eigenes Wissen und keine Erfahrung, keine Praxis auf diesem Gebiet von der Person besteht.

In diesem Sinne, übe und praktiziere Yoga selbst. So erreichst du die Vollkommenheit. Wenn du die Anleitung eines guten Yogalehrers, einer guten Yogalehrerin zur Verfügung hast, der oder die selbst praktiziert, weißt du, eine gute Anleitung zu erfahren. Aber praktiziere eigenständig! Das selbständige Üben ist das Geheimnis deines Erfolges.

 

  1. Vers

पीठानि कुम्भकाश् चित्रा दिव्यानि करणानि
सर्वाण्य् अपि हठाभ्यासे राजयोगफलावधि ॥७०

pīṭhāni kumbhakāś citrā divyāni karaṇāni ca… sarvāṇy api haṭhābhyāse rāja-yoga-phalāvadhi

pīṭhāni : Körperstellungen („Sitz“); kumbhakāḥ : (die) Atemverhaltungen; citrāḥ : verschieden(en); divyāni : himmliche, göttliche, wunderbare, magische; karaṇāni : Mudras („Mittel“); ca : und; sarvāṇi : alle, sämtliche, all (diese Techniken sollten geübt werden); api : auch; haṭha : (des) Hatha; abhyāse : in der Praxis; rāja-yoga* : (in Form des) königlichen Yoga; phala : (die) Frucht; avadhi : (solange) bis (erreicht ist)

[Die Praxis beruht auf] Körperhaltungen, verschiedenen Kumbhakas und weiteren erhabenen Werkzeugen. | In der Praxis des Hatha-Yoga führen all diese mit Sicherheit zur Frucht des Raja-Yoga.

 

*Anmerkung: Der Kommentator Brahmananda erklärt, dass der (Zustand des) Raja-yoga selbst (eva) die Frucht  (Phala) des Hatha Yoga ist: rājayoga eva phalam. Zu einer Definition des Begriffes rāja-yoga vgl. die Anm. zu Kap. 4 Vers 103.

 

Praktiziere die verschiedenen Asanas, Kumbhakas und die Mudras des Hatha Yoga solange, bis du Raja Yoga erlangt hast. Mit anderen Worten: Praktiziere diese Asanas, Pranayamas und alles andere.

Es gibt eine weitere Übersetzung dieses Verses:

Die Hatha Yoga Praxis beruht auf Körperhaltungen, verschiedenen Kumbhakas, Atemübungen und weiteren erhabenen Werkzeugen. In der Praxis des Hatha Yoga führen alle diese Praktiken mit Sicherheit zur Frucht des Raja Yoga.

 

Was ist Raja Yoga?

Raja Yoga ist die Herrschaft über den Geist. Praktiziere Asanas, Pranayama und die anderen wunderbaren Werkzeuge des Hatha Yoga. Dazu gehören Mudras, Bandhas, Kriyas und die Hatha Yoga Meditationstechniken. Die werden dir helfen, deinen Geist zu beherrschen und über die Herrschaft des Geistes kommst du zur Erleuchtung.

Da dies der Abschluss des 1. Kapitels ist, möchte ich dich inspirieren, motivieren und auffordern, dir zu  überlegen:

Wie ist deine Praxis?

Wie viel Asanas übst du jeden Tag?

Machst du täglich Pranayama?

Übe jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Asanas! Übe mindestens jeden Tag eine halbe Stunde Pranayama! Übe mindestens jeden Tag 20 Minuten Meditation und lese jeden Tag ein paar Minuten in einer heiligen Schrift.

Mit einer solchen regelmäßigen Praxis kommst du voran. Widme dich mindestens ein- oder zweimal im Jahr einer Woche der intensiveren Praxis. Vielleicht verbringst du einen Teil davon in einem zweiwöchigen Sadhana-Intensiv-Seminar. Dieses Seminar findet immer in der zweiten Junihälfte bei Yoga Vidya in Bad Meinberg statt. Darin enthalten sind zwei Wochen intensive Praxis mit Pranayama, Mudras, Bandhas, Asanas und Meditation. Das hilft dir, sehr große Fortschritte zu machen auf dem Weg zur Herrschaft über den Geist, auf dem Weg zur Erleuchtung.

Vielleicht magst du dir selbst neue Vorsätze fassen.

Ich will zum Abschluss dieses ersten Kapitels nochmals die Hatha Yoga Pradipika Guru Parampara rezitieren und dir den Segen der großen Meister des Hatha Yoga wünschen.

 

OM, OM, OM

Shri adi nathaya namo’stu tasmai

yenopadishta hatha yoga vidya

vibhrajate pronnata raja yogam

arodhum ichchhor adhirohiniva

pranamya shri gurum natham svatmaramena yogina

kevalam raja yogaya hatha vidyopadishyate

shri adinatha matsyendra shabarananda bhairavaha

chaurangi mina goraksha virupakshabileshayaha

manthano bhairavo yogi siddhih buddhash cha kanthadihi

korantakah suranandah siddhapadash cha charpatihi

kaneri pujyapadash cha nitya natho niranjanaha

kapali bindunathash cha kakachandishvarahvayaha

allamah prabhudevash cha ghoda choli chatintinihi

bhanuki naradevash cha khandah kapalikastatha

ityadayo maha siddha hatha yoga prabhavataha

khandayitva kala dandam brahmandevicharanti te

Om Shanti, Shanti, Shanti

Om Bolo Sadguru Sivananda Maharaj Ji Ki - Jaya.

 

 

Der Abschluss des 1. Kapitels

इति हठप्रदीपिकायां प्रथमोपदेशः

iti haṭha-pradīpikāyāṁ prathamopadeśaḥ

iti : so (lautet); haṭha-pradīpikāyāṁ : in der Leuchte (des) Hatha; prathama : (die) erste; upadeśaḥ : Unterweisung

Das war das erste Kapitel der Hatha-Yoga-Pradipika.

 

______

Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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