Motivation und Kaste - Was hat es mit dem indischen Kastensystem auf sich? Gibt es einen logischen, beziehungsweise nachvollziehbaren Ursprung des Kastensystems? Was haben die Kasten mit der Motivation des Menschen allgemein zu tun? Was könnten verschiedene Motivationen eines spirituellen Aspiranten sein?

Das Kastensystem in Indien ist eine der großen Abirrungen der indischen Kultur. Wie Kasten Jahrzehnte und gar Jahrhunderte lang das Leben der Menschen und der Gesellschaft strukturiert haben, hat zu himmelschreiendem Unrecht und Schwierigkeiten geführt. Allerdings muss man sich bewusst machen, dass die Inder damit gar nicht so anders sind.

Kastenlosigkeit gab es auch in Europa. Dort hieß es Unehrbarkeit. Es gab die sogenannten unehrbaren Berufe im ganzen Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Dazu zählten beispielsweise unter anderem die Schausteller und Zirkusleute. Sowie diejenigen, die sich mit den Toten beschäftigt haben, außerhalb der Priestertätigkeiten. Beispielsweise waren dies die Totengräber. Wenn jemand geboren war als Sohn oder Tochter einer unehrbaren Familie oder eines Unehrbaren, war er/sie automatisch unehrbar.

Indien im Vergleich zu Europa

Insofern ist die Kastenlosigkeit nicht nur eine Abirrung in Indien, sondern in großen Teilen der Welt. In Europa wurde sie erst nach der Französischen Revolution schrittweise abgeschafft. Dazu kommt, dass das Kastensystem in Indien erst richtig verfestigt worden ist durch die englische Kolonialherrschaft. Die Engländer wollten klare Ansprechpartner haben und sich auf die höheren Kasten beschränken. Dadurch haben sie diese bewusst gefördert, auch in ihrem Kastenstolz.

Ziel der Engländer war es dadurch Verbündete zu gewinnen und dass diese sich durch die Bevorzugung gegen das eigene Volk absetzen. Glücklicherweise spielt heute in Indien das Kastensystem immer weniger eine Rolle. Gerade in den großen Städten.

In der Bhagavad Gita gibt es immer wieder Bezug auf die Kasten. Krishna erläutert darin eine logische Begründung der Kasten. Vermutlich hat er diese bewusst gemacht, als Gegenpol zu dem, wie es ansonsten gehandhabt wurde. Krishna hat davon gesprochen, dass Kasten von der Swarupa eines Menschen abhängen. Seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste hängt mit der eigenen Wesensnatur zusammen. Er sagt darin ausdrücklich, dass der Kastenbezug nicht aus der Familie kommt und auch nicht durch Erbschaft. Die Kaste ist vielmehr durch die Wesensnatur, die in einem Menschen vorherrschend ist, gegeben. Der Mensch gehört einer der vier Kasten an. Dies soll hier erläutert werden in Verbindung mit einigen westlichen Prinzipien beziehungsweise mithilfe von Motivationsklassifizierungen.

Motivationsklassifizierungen Kama, Artha, Dharma und Moksha

Im Rahmen der Vortragsreihe „Der spirituelle Weg“, der ein Teil der Yoga Vidya Schulungsreihe ist, wurde bereits über die vier Motivationsebenen, die in jedem Menschen angelegt sind, gesprochen. Manche Menschen haben eine der vier Ebenen stärker ausgeprägt als andere. Bei anderen Menschen entwickelt sie sich weiter.

Kama bedeutet Sinnesbefriedigung. Es ist der Wunsch nach Vergnügen. Dazu zählen Sexualität, gutes Essen, schönes Wohnen, der Wunsch nach schöner Kleidung usw. Kurz gesagt, das Streben nach einem angenehmen Leben. Artha wird symbolisiert durch den Wunsch nach Reichtum, finanzieller Absicherung sowie nach gesellschaftlichen Ansehen und guter Reputation und nach Macht. All das zählt zu Artha.

Die dritte Motivationsebene ist Dharma. Darin stecken der Wunsch Gutes zu tun, die eigenen Talente zum Vorschein zu bringen, sowie die Persönlichkeitsentfaltung. Verbunden mit dem Wunsch in der Welt Gutes zu bewirken.

Als Viertes gibt es Moksha. Moksha heißt Erleuchtung. Der Ausdruck beinhaltet den Wunsch nach Befreiung und Erleuchtung.

In jedem Menschen sind all diese vier Wünsche angelegt. Jeder Mensch mag typischerweise essen, er schätzt Behaglichkeit, ein gutes Bett usw. Das ist der Karma Aspekt. Artha äußert sich in dem Wunsch eine gute Reputation zu erlangen, eine Absicherung zu haben. Die meisten Menschen streben danach mehr Geld zu haben.

Dharma manifestiert sich in dem Wunsch nach Entfaltung und dem Bedürfnis Gutes zu bewirken in dieser Welt. Moksha äußert sich im Menschen, zumindest ab und zu. Der Wunsch nach Befreiung tritt vor allem auf, wenn sie konfrontiert werden mit Tod, mit Krankheit und sich dann fragen, was soll das Ganze? Gibt es nicht einen höheren Sinn im Leben?

 

Kasten in der Bhagavad Gita – Shudra, Vaishya, Kshatriya und Brahmana

Krishna sagt in der Bhagavad Gita, dass sich die vier Kasten bestimmen nach der vorherrschenden Motivationskategorie eines Menschen. Jemand, der hauptsächlich den Wunsch nach Sinnesbefriedigung hat, der ist ein Shudra. Jemand, der vor allem nach mehr Geld strebt, um reich zu werden, ist ein Vaishya. Personen, denen es in erster Linie darum geht, sich für das Recht einzusetzen und das Richtige zu tun, sie sind Kshatriyas. Anderen, die hauptsächlich die Gottverwirklichung, die Erleuchtung anstreben, sind Brahmanas.

Shudra wird oft übersetzt als Tagelöhner, aber dies trifft es nicht ganz zu. Im Grunde genommen ist ein Shudra jemand, der gut essen, gut trinken will, der eine Wohnung haben will und der in der Familie Freude haben will. Heutzutage würde man ihn beschreiben als Person, die sich nicht zu viel engagieren will bei der Arbeit, ein schönes Zuhause haben will und vor allem Gemütlichkeit schätzt. Wenn die eigene Fußballmannschaft gewinnt, ist er glücklich. Wenn man das Gefühl hat, dass der Lidschatten zum Lippenstift passt, und das ganze irgendwie harmoniert mit dem Vorhang, dann ist alles gut. Dies alles beschreibt einen Shudra.

Menschen, die keine große Motivation haben mehr Geld, Macht und Einfluss zu erlangen, sondern Selbstentfaltung und Gottverwirklichung erstreben, sollten ein einfaches und ethisches Leben führen. Sich gleichzeitig dabei nicht zu sehr überfordern, im Sinne von zu viel Engagement. Sie können sich engagieren, jedoch dabei noch ein ruhiges, beschauliches Leben führen.

Diejenigen, die nach Artha streben, nach Reichtum, Macht, Finanzen und Geld, sollten Vaishyas werden. Vaishyas sind vor allem Kaufleute. Sie sollten ins Wirtschaftsleben gehen, sich darum bemühen in einer Firma Karriere zu machen. Sie sollten sich darum bemühen ein Geschäft zu eröffnen und so Wohlstand zu erreichen. Schon die alten Inder wussten, wenn Menschen, für die Geld wichtig ist, sich engagieren können in der Wirtschaft, diese wächst und letztlich alle davon profitieren. Das sind Menschen, die großes Engagement und Genie dort hineinbringen und die Wirtschaft ankurbeln, auch um selbst mehr Geld zu haben. Diese Menschen sorgen im Idealfall dafür, dass genügend Geld für alle da ist. An den Vaishya „hängt“ die Ökonomie. Natürlich müssen die Vaishyas im Zaum gehalten werden durch die Kshatriyas. Diese sind zum einen diejenigen, denen es darum geht, dass Recht richtig umgesetzt wird und dass es allen gut geht. Sie engagieren sich dafür, Gutes zu bewirken. Kshatriya wird oft unvollständig übersetzt als Krieger. Man würde eher sagen, Kshatriyas sollten Politiker sein. Sie sollten die Menschen in den Verwaltungen, in den Gerichten sein. Sie sollten alle solche Positionen besetzen, die sich um die öffentliche Ordnung kümmern. Die Kshatriyas sorgen dafür, dass Gesetze richtig erlassen werden und dafür dass die Vaishyas genügend Steuern bezahlen. Sie setzen sich generell dafür ein, dass das wirtschaftliche Handeln in einer bestimmten Ordnung abläuft.

Dieses System widerspricht dem, was Plato gesagt hat. Dieser sagte, die Philosophen sollten Könige werden. Diejenigen, die nach höchster Weisheit streben. Die Inder waren allerdings realistisch genug um zu wissen, wenn die Philosophen die Welt regieren, gibt es nur Probleme. Denn sie denken in zu hohen Kategorien. In den Alltag hinein zugehen und ihn zu strukturieren, das ist den Philosophen zu banal. Die Annahme, Brahmanas würden die Welt regieren, wäre ebenfalls eine ungute Vorstellung. Es gab genügend Gottes Staaten, die alle im Desaster endeten. Es sollten eben nicht die großen spirituellen Menschen und die großen Weisen versuchen die Welt zu regieren, die schaffen das nicht. Vielmehr diejenigen, denen es darum geht, dem Ganzen gerecht zu werden und denen dieses ein echter Herzenswunsch ist. Nur diese sollten Kshatriyas werden.

Krishna spricht in der Bhagavad Gita davon, wenn die falschen Menschen in den entsprechenden Positionen sind, Probleme entstehen. Beispielsweise in der momentanen westlichen Gesellschaft gibt es ein Problem, dass die Vaishyas Überhand nehmen. Diejenigen, die Geld haben wollen, haben zu viel Einfluss auf die Politik. Vielleicht gibt es manche Politiker, denen es eigentlich darum geht, ein Sprungbrett zu bekommen, um anschließend in die Wirtschaft zu gehen und dort viel Geld zu verdienen. Anderes Beispiel ist die übermäßige Privatisierung. Wenn letztlich Dinge, die eigentlich das Gemeinleben strukturieren sollen, in die Hände der Privatwirtschaft gegeben werden, führt das zu großen Problemen. Umgekehrt gibt es auch Schwierigkeiten, wenn Kshatriyas versuchen das Wirtschaftsleben zu strukturieren. Daran sind letztlich die Kommunisten gescheitert in der ehemaligen Sowjetunion und auch in China. Immer dort, wo Menschen probiert haben, eine gerechte Ordnung zu schaffen und versucht haben danach das Wirtschaftsleben auszurichten, funktioniert es so nicht.

Was in unserer Kultur fehlt, sind die Brahmanas. Es gibt zwar die Priester. Brahmana wird oft übersetzt mit Priester. Priester engagieren sich heutzutage recht viel in der Daseinsfürsorge und für soziale Werke. Das ist natürlich wichtig. Zur Spiritualität gehört auch uneigennütziges Engagement. Letztlich sollten die Priester sich um das Seelenheil der Menschen kümmern. Sie sollten sich darum kümmern, dass diese spirituelle Praktiken üben und sie ihr Leben auf Höheres ausrichten.

Wie ein idealer Staat aussehen würde, wenn das alles umgesetzt würde, das übersteigt an dieser Stelle meine Kompetenz. Es stellt eine Überlegung für spirituelle Aspiranten dar. Wenn Moksha wichtig ist, heißt das noch nicht, dass man automatisch Brahmana ist. Wenn das spirituelle Interesse größer ist als alles andere, dann entspricht das Brahmana. Für diesen Fall hält die indische Lehre zwei Ratschläge bereit.

Zwei Ratschläge der indischen Lehre zur Gestaltung des täglichen Lebens

Das eine wäre, dass man, um den Lebensunterhalt zu verdienen, einfache Arbeiten ausüben könnte, ähnlich wie ein Shudra. Das ist interessant im alten Indien zu sehen. Manche Brahmana waren zusätzlich einfache Bauern, die ein kleines Grundstück hatten. Oder sie waren einfache Handwerker, verrichteten Handlanger Dienste oder waren Tagelöhner für andere. Ansonsten führten sie ein asketisches Leben. Wenn man mit wenig zurechtkommt und jemand, dem es hauptsächlich um Moksha geht, der braucht nur wenig zum Leben. Er will nur einfach etwas essen und ein einfaches Bett haben. Mehr braucht es nicht. Er braucht nicht viel Geld, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn der Wunsch nach Moksha stärker ist als alles andere: vereinfache dein Leben, reduziere die Größe deines Apartments, die Größe deines Autos oder schaffe es ganz ab. Kaufe nur noch selten Kleidung usw. Wer mit wenig auskommt, benötigt wenig Geld. Er braucht sich nicht mehr so viel zu engagieren auf anderen Ebenen.

Eine zweite Aufgabe des Brahmana war die Durchführung von Ritualen und allgemeine Priesterfunktionen auszuführen. Eine Art Mischung aus Psychotherapeut und spiritueller Berater für andere. Heute würde man sagen, deinen Lebensunterhalt als Yogalehrer und als Meditationskursleiter zu verdienen. In Deutschland ist es zumindest so, dass du damit nicht besonders reich werden kannst. Wenn dein Hauptinteresse ist, Gott zu verwirklichen, brauchst du nicht viel zum Leben. Führe ein einfaches Leben und hilf anderen in der Spiritualität. Angenommen, du hast doch einige zusätzliche Sinnesbefriedigungswünsche und weiteres auf dieser Ebene. Dann bedeutet dies trotzdem, deine Sinne auf einfache Weise zu befriedigen. Du würdest einen Shudra Lebensstil führen, mit gleichzeitiger spiritueller Praxis.

 

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Stark gekürzter Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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