YVS115 Jivanmukta, der lebendig Befreite

Jivanmukta  bedeutet „der lebendig Befreite“. Was heißt Befreiung? Wie wirst du sein, wenn du die Befreiung erreicht hast? Wie lebt ein lebendig Befreiter? Wie wirst du leben, wenn du die Erleuchtung erlangt hast?

Diese Fragestellungen werden folgend betrachtet.

Aus Swami Sivanandas Buch „Inspiration und Weisheit

Swami Sivananda schreibt im Kapitel über Jivanmukta folgendes: „Ein Jivanmukta ist ein befreiter Weiser. Er hat zu Lebzeiten Verwirklichung erreicht. Er lebt in der Welt, aber er ist nicht von der Welt. Er weilt immer in der ewigen Wonne des Höchsten Selbst. Er ist Ishvara selbst.“

Jivanmuktas leben ohne Ego, zumindest ohne Eigensucht. Sie leben also ohne etwas für sich haben zu wollen. Sie leben im Einklang mit dem Unendlichen, in dem Wissen, selbst das Unendliche zu sein. Sie wirken durch einen konkreten Körper. Ein Jivanmukta hat Nirvikalpa Samadhi erreicht. Er hat Atma Jnana, die Erkenntnis des wahren Selbst erlangt, trotz des verbliebenen Karmas.

Ähnlich wie in einem luziden Traum, wo der Träumende weiß, dass er das Bewusstsein hinter diesem Traum ist, gibt es in dem Traum eine konkrete Gestalt, durch die er handelt und wahrnimmt. Ein Jivanmukta kann jederzeit seine Einheit mit Allem in Samadhi erfahren. Danach kann er in den Körper zurückkehren und handeln.

Der Jivanmukta ist voll erblühter Jnani, mit reinem Mitgefühl, Liebe und Barmherzigkeit. Er ist voller außerordentlicher Liebenswürdigkeit und verborgener Kraft und Stärke. Liebe und Glanz scheinen durch seine strahlenden Augen.

Um einen Jivanmukta zu erkennen, musst du selbst ein Jivanmukta sein. Trotzdem gibt es ein paar erkennbare Kennzeichen. Die Liebenswürdigkeit ist stark und man kann sie spüren. Ein Jivanmukta ist ein befreiter Weiser. Als Jivanmukta verschwinden alle Unterschiede. Es gibt kein „weiblich“ und kein „männlich“ mehr. In seiner Gegenwart spürt man Kraft und Stärke. In den Augen strahlen Liebe und Glanz. Wenn man ein Foto von Swami Sivananda anschaut, spürt man diese Liebe und Freude. Der oder die Jivanmukta hat nicht die mindestens selbstsüchtigen Interessen. Er oder sie ist frei von Sorgen, Schwierigkeiten, Probleme, Leid, Kummer und Ängste. Wenn sich Schmerz in seinem Körper zeigt, krümmt sich der Geist niemals unter diesen Gegensätzen. Der Jivanmukta hat weiterhin einen Körper und kann Schmerzen wahrnehmen. Er oder sie kann sich jedoch davon lösen. Für ein Jivanmukta hat Schmerz keine Bedeutung. Die wahre Größe eines verwirklichten Yogis kann nicht beschrieben werden. Die Augen sind heiter und fest, die Handlungen vollkommen heilig. Die Sprache ist süß und knapp, inspirierend und beeindruckend. Seine Haltung ist hochherzig, berührend, reinigend. Der Blick ist barmherzig und die Gesten sind erleuchtend. Der Jivanmukta ist allwissend, hat intuitives transzendentales Wissen und klare Einsicht in den Herzen aller Dinge und Wesen. In der Gegenwart eines Jivanmuktas erfährt man ein tiefes Gefühl von Frieden und Harmonie. Es ist inspirierend.

Es gibt einige Biografien von großen Jivanmuktas, die sich zu lesen lohnen. Das sind zum Beispiel Biografien von Swami Sivananda, Anandamayi Ma, Ramana Maharshi und vielen anderen. Wenn man diese Biografien liest, kann man sie als Vorbilder betrachten, die uns helfen, auch so zu sein. Die Beschäftigung mit Jivanmuktas ist einerseits inspirierend, andererseits kann man sich selbst fragen: Wie würde ich als Jivanmukta handeln? Oder man überlegt: Wie würde Sivananda in dieser Situation handeln? Ein Jivanmukta zu sein ist ein ehrenwertes Ziel. Langfristig gesehen wird ein Mensch die Erleuchtung erlangen. Sich in die Gedanken, Handlungen und Entscheidungen eines Jivanmuktas hinein zu versetzen, ist ein weiterer Schritt.

  

Kennzeichen des Jivanmukta

Der Jivanmukta ist vollkommen frei von Ichdenken, Zweifel, Ängsten und Kummer. Diese vier Kennzeichen zeigen, dass ein Mensch Vollkommenheit erlangt hat. Frei von Ichdenken heißt, er kann nicht mehr gekränkt werden. Wenn er beschimpft wird oder wenn schlecht über ihn oder sie gesprochen wird, stört es ihn nicht. Er will nichts Besonderes für sich haben und nicht besser sein als andere. Daher hat er keine Angst vor dem Tod und kein Ichdenken, denn das Selbst ist unendlich und ewig. Der Körper und die Psyche sind begrenzt und gehören ihm nicht, sondern sie sind Handlungswerkzeuge. Ähnlich wie die Rolle eines Schauspielers, der Raumanzug bzw. Kostüm eines Schauspielers verhält es sich mit einem Jivanmukta. Für ein Jivanmukta ist alles klar, daher ist er frei von Zweifel. Er ist frei von Furcht, denn es besteht keine Notwendigkeit, Angst vor etwas zu haben. Er ist frei von Kummer, denn er hat Ananda vollkommen verwirklicht.


Das Doppelbewusstsein eines Jivanmukta

Swami Sivananda spricht über das Doppelbewusstsein eines Jivanmukta. Samadhi ist die Erfahrung der unendlichen Einheit (Brahman). Kommt ein Jivanmukta aus Samadhi, hat er oder sie ein Doppelbewusstsein. Er nimmt das Universum so wahr, wie andere auch. Auf einer anderen Ebene weiß ein Jivanmukta, dass alles Eins ist. Jivanmukta kann andere sehen, hören, riechen und mit anderen Mitgefühl haben. In der Tiefe seines Seins weiß er: Tat Twam Asi: Du bist Eins mit mir. Doppelbewusstsein heißt, gleichzeitig die Welt zusehen wie andere und zugleich die Einheit sehen und erfahren.

Samadhi Jnani und Vyavahara Jnani

Die Lebensweisen von Jivanmuktas und Weisen sind nicht immer gleich. Ein Jivanmukta kann fürstlich leben, wie Bhagiratha, ein indischer König. Ein Weiser kann wie ein Bettler leben. Andere wiederum sind in Meditation versunken. Sie verrichten kaum Aktivitäten und leben zurückgezogen. Jadabharata lebte auf diese Weise. Andere leben in hektischen überbevölkerten Städten, stürzen sich in den Dienst, sprechen mit Menschen, halten Vorträge, geben spirituellen Unterricht und schreiben Vorträge. Shankara lebte diesen Stil. Die Lebensweise hängt von Prarabdha, vom jeweiligen Karma ab. Jeder Jivanmukta, jede Jivanmukta hat unterschiedliches Prarabdha. Demnach gibt es ganz unterschiedliche Jivanmuktas.

Ein Vyavahara Jivanmukta lebt in der Welt, handelt und hat Aktivitäten. Ein Samadhi Jnani ist derjenige, der sich zurückzieht von Allem. Sein normales Karma ist ausgearbeitet, deshalb verbringt er den größten Teil der Zeit in Samadhi. Er lebt in Klöstern oder in einer Höhle. Jivanmuktas zu beurteilen ist nicht einfach. Sie können unterschiedliche Charaktere haben. Swami Sivananda war stets im Gleichgewicht und versprühte ständig uneigennützige Liebe.  Es gibt Jivanmuktas, die sehr subtil, edel sind und fast schweben. Swami Chidananda war ein solcher Jivanmukta. Swami Krishnananda war in seiner Art burschikos. Anandamayi Ma strahlte unendliche mütterliche Liebe aus. In ihrer Gegenwart fühlte man sich vollständig aufgehoben. Es gibt die unterschiedlichsten Verwirklichten. Ein Vyavahara Jnani kann ein Lehrer, Verkäufer oder eine Krankenschwester sein. Jede ethische Berufsgruppe kann ein Jnani ausrichten, der das Höchste verwirklicht hat.

Glücklicherweise gibt es selbstverwirklichte Meister und Meisterinnen, die in großem Stil lehrten wie Swami Sivananda, Anandamayi Ma, oder Swami Vivekananda. Diese Meister hatten vor ihrer Verwirklichung die tiefe Inspiration, vielen Menschen zur Verwirklichung zu helfen. Sie hatten nach ihrer Verwirklichung dieses Karma. Unterschiedliches Karma führt zu unterschiedlichen Lebensweisen. Man kann sich selbst diese Frage stellen: Angenommen ich hätte die Befreiung erreicht, wie wäre ich? Wie würde ich leben? Diese Fragen sind rein hypothetisch. Indem man über sie nachdenkt, gewinnt die Frage an Attraktion. Gedanken haben Anziehungskraft. Wenn man ständig darüber nachdenkt, was alles schiefgeht, ist der Geist damit gefüllt. Wenn man ständig über die eigenen Schwächen nachdenkt, ist der Geist damit befüllt. Es ist manchmal gut darüber nachzudenken, was danebengehen kann, um vorbereitet zu sein. Manchmal ist es gut darüber nachzudenken, was man für Schwächen hat, um daran arbeiten zu können. Noch wichtiger ist es darüber zu meditieren: Wer werde ich als Jivanmukta sein? Wie werde ich als Jivanmukta sein? Vielleicht magst du jetzt darüber einige Momente nachdenken oder meditieren.

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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