YVS111 Indische Philosophiesysteme

Shaddarshana – sechs klassische Philosophiesysteme und was sie mit der Praxis von Yoga zu tun haben (Shash (sechs), Darshana (Weltanschauungssysteme, Philosophiesysteme)).

Yoga ist ein Übungs- und Praxissystem. Yoga ist weltanschauungsübergreifend. Schon im alten Indien wurde Yoga praktiziert. Die Bedeutung von Darshana ist Sichtweise oder Weltanschauung. Ein Darshana definiert oder beschreibt was die Welt ist, wie sie entstanden ist, ob es eine höhere Wirklichkeit gibt und wenn ja, ob sie erfahrbar ist, was der Mensch ist, was das Ziel des Lebens ist und ob es einen Sinn im Leiden gibt.

Es gibt die folgenden sechs Darshanas: Purva Mimamsa, Vaisheshika, Nyaya, Samkhya, Yoga und Uttara Mimamsa.

Purva Mimamsa

Purva heißt ursprünglich und Mimamsa bedeutet System, Weltanschauungssystem. Im Purva Mimamsa geht es darum, Verdienste anzuhäufen und keine Sünden zu begehen. Im Purva Mimamsa spricht man von Punyas (Verdienst) und Papas (Sünde oder Vergehen).

Das Gesetz von Karma wird besonders betont, insbesondere das Gesetz der Kompensation. Wenn du anderen Gutes tust, wird Gutes zurückkommen. Wenn du Schlechtes tust, wird Schlechtes zurückkommen. Wird ein Papa (eine Sünde) begangen, können zusätzliche Punyas erworben werden, um schlechtes Karma wieder gut zu machen. Bei einer falschen Ernährung können Reinigungsübungen ausgeübt werden, um die Giftstoffe wieder aus dem Körper auszuleiten. Wenn man schlecht zu einem Menschen war, kann man den Schaden wieder gutmachen, indem man mit der Person spricht und sie fragt, was sie braucht. Wenn das nicht möglich ist, weil die Person zu sehr gekränkt ist, kann man anderen gegenüber Gutes tun. Schlechtes Karma kann auf verschiedene Weise gereinigt werden.

Dieses Philosophiesystem erfordert große Selbstverantwortung. Die Verantwortung für das eigene Glück, Gesundheit oder Krankheit liegt in der eigenen Hand. Alle Schicksalsereignisse sind Folgen der eigenen Handlung in diesem oder einem anderen Leben. Das Gute, das man sät, wird sich in diesem oder in einem anderen Leben manifestieren.

Vaisheshika

Vaisheshika ist ein materialistisches Philosophiesystem. Es vertritt einen rationalen Standpunkt. Wie kann man so leben, dass man ein ethisches, glückliches und gesundes Leben führt?

Zum Glück gehört auch die Ethik. Ein Mensch ist nur dann glücklich, wenn er sich ethisch verhalten kann. Vaisheshika richtet sich wissenschaftlich aus und erklärt die Wirkungen des Yoga von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. In diesem Kontext gründete sich Anfang der 20er Jahre ein Institut namens Kaivalyadhama. Dort wurde mit verschiedenen EEG-, EKG- und anhand von Pulsmessungen etc. geforscht. Seitdem wird dort Yogaforschung betrieben, deren Studien auch bei Yoga Wiki gesammelt werden. Yoga, als Trainingssystem betrachtet, kann individuell optimiert und angepasst werden. Die Wirkungen der Meditation werden wissenschaftlich erklärt, in Forschungen über das Gehirn, Psyche, usw.

Nyaya

Nyaya, die „Logik“, fragt: „Wie kommt man zu logischen Schlussfolgerungen?“ „Wie kann man erkennen, ob eine Aussage korrekt oder inkorrekt ist?“

Die Antworten werden logisch angeschaut. Dieses System wurde einige Jahre v. Chr. entwickelt. Es gab eine Denkschule, die sich über tausend Jahre – womöglich auch zweitausend – weiterentwickelte. Man findet im Nyaya logische Gottesbeweise. Es ist eine Herangehensweise an Yoga, die beispielsweise den Anspannungs- und Entspannungsablauf auf logische Weise erklärt.

Samkhya

Samkhya gilt als dualistisches und doch spirituelles Philosophiesystem. Es beschreibt das Universum als Zusammenstellung von Purusha und Prakriti. Das reine Bewusstsein (Purusha) ist unveränderlich, nicht materiell und unendlich. Prakriti, die kosmische Energie oder die Natur, manifestiert sich in den drei Gunas: Sattva, Rajas und Tamas. In der Kausalwelt überwiegt Sattva, in der Astralwelt Rajas und in der physischen Welt Tamas. Alles in diesem Universum ist ein Zusammenspiel von Sattva, Rajas und Tamas.

Purusha, das unendliche Selbst, spiegelt sich in Prakriti. Daraus entsteht eine Einzelseele, die durch den Körper- und Geistkomplex wirkt. Die Seele macht Erfahrungen und genießt sie auch. Sie liebt es, in dieser Welt zu sein.

Patanjali sagt, der Grund warum sich Purusha in Prakriti spiegelt, ist, dass Purusha Erfahrungen macht und die Kräfte erfährt, die in ihm und Prakriti angelegt sind. Purusha erfährt die Fähigkeiten, die in ihm angelegt sind, will aber wieder zurückkehren. Der Grund ist, dass in der Welt kein Glück zu erfahren ist. Purusha ist in sich selbst vollkommen. Körper und Psyche sind vergänglich und in ständiger Veränderung. Purusha sehnt sich wieder danach, das Unendliche zu erfahren.

Purusha kehrt zurück zum kosmischen Wissen (Jnana), indem es sich von der Identifikation mit Prakriti löst. Wie gelingt ihm das? Zum einen, indem es Prakriti katalogisiert, analysiert und die verschiedene Teile von Prakriti aufzählt. Samkhya bedeutet wörtlich Aufzählung.

Samkhya spricht von Sthula, Sukshma, Karana und von den Eigenschaften der Natur (Sattva, Rajas und Tamas) in der physischen Welt, der Astralwelt und der Kausalwelt. Das Ayurvedasystem mit den verschiedenen Doshas (Vata, Pitta und Kapha) und den fünf Elementen ist daraus entwickelt worden.

Gemäß der Samkhya-Philosophie wird die Identifikation gelöst und die Beobachtung gewinnt an Wichtigkeit. Anstatt zu denken „mir geht es schlecht“, sagt man „mein Geist ist in einem tamasigen Zustand“ oder „das Vata ist zu stark geworden (Ängste, Unruhe)“. Anstatt zu sagen „ich bin so ärgerlich“ sagt der Sankhya Yogi „mein Pitta ist hoch geworden“. Er sagt nicht „ich bin träge“, sondern „mein Kapha ist stark geworden“.

Glück geschieht, wenn man sich aus der Identifikation mit Körper und Psyche löst. Dies ist über Achtsamkeit erfahrbar und indem man zum reinen Beobachter/zur reinen Beobachterin wird (Sakshi) und sich selbst als reines Selbst erfährt. Yogaübungen sind so weit von Nutzen, als sie helfen, sich vom Vergänglichen und von Identifikation zu lösen. In der Asana kann der Yogi/die Yogini alles spüren und beobachten. Er/sie spürt die Dehnung im Bein, die Energie in der Wirbelsäule, das Pulsieren im Dritten Auge. Er/sie beobachtet es und löst sich dann davon und wird sich bewusst „ich bin das Bewusstsein“. In der Meditation spürt man den Atem, die Empfindungen und löst sich anschließend daraus.

Im Yoga Vidya Kanal gibt es Anleitungen zu Achtsamkeitsmeditationen. In Schweigeretreats, die bei Yoga Vidya stattfinden, spielt Sakshi Bhava, die Achtsamkeitsmeditation, eine große Rolle.

Yoga

Yoga ist das fünfte Philosophiesystem und wird auch Patanjali Yoga oder Raja Yoga genannt. Yoga, basierend auf dem Philosophiesystem von Samkhya, beschreibt weitere Weisen, wie man zu Verwirklichung kommen kann. Zum einen wird gesagt, durch Hingabe an Gott kann man Selbstverwirklichung erreichen. Patanjali sagt, Hingabe an Gott ist ein Weg zur Befreiung (Ishvara Pranidhana).

Eine andere Weise, zu Befreiung zu kommen, ist den Geist zur Ruhe zu bringen. Wenn dir das gelingt, erfährst du deine wahre Natur und erreichst darüber Befreiung. Wie bringst du den Geist zu Ruhe? Dazu übe Yama und Niyama, Ethik im Alltag. Übe ein spirituelles Leben, ein diszipliniertes reines Leben mit Selbststudium und Selbstbeobachtung. Übe Asanas und Pranayama. Übe Pratyahara, trainiere deinen Geist darin, immer wieder nach Innen zurück zu kehren. Lerne, den Geist nicht von den Sinnen nach Außen führen zu lassen. Es ist möglich, dass man zu seinem Geist wie auf Kommando sagen kann „Geh nach Innen!“.

Wenn der Wunsch nach Eis kommt, gehe nach Innen. Wenn man denkt, man würde ungerecht behandelt werden, kann man Pratyahara üben, die Fähigkeit nach Innen zu gehen. Dann folgt Dharana, Konzentration. Patanjali sagt: „Übe deine Konzentration immer wieder, mache nicht andere für deinen Gemütszustand verantwortlich.“ Du kannst dich konzentrieren und du bist dafür verantwortlich. Es gilt, sich zu konzentrieren. Man entscheidet selbst, ob man diesen Vorschlägen von Gedanken, Emotionen und Wünschen folgt oder sie ziehen lässt. Wer in Dharana geübt ist, kommt in Dhyana, einen meditativen Zustand von Transzendenz der Wonne. Dieser verschmilzt mit der Zeit zu Samadhi, dem Überbewusstsein. Über dieses Überbewusstsein erfährst du deine wahre Natur (Sat- Chit- Ananda) und erreichst Befreiung (Kaivalya). Gemäß Patanjali ist das, was dir hilft zum überbewussten Zustand zu kommen, das Richtige für dich.

Uttara Mimamsa

Uttara Mimamsa wird auch Vedanta (das Ende des Wissens) genannt. Uttara (Höchstes) bezeichnet sich als höchstes Philosophiesystem. Vedantins nehmen für sich in Anspruch, die höchste Wirklichkeit formuliert zu haben. Diese ist die endgültige Beschreibung. Befürworter anderer Yogawege würden das anders sehen. Vedanta sagt, in Wahrheit bist du Brahman, das reine Bewusstsein. Die scheinbare Welt ist eine Illusion (Maya). Die scheinbare Welt (Jagad) scheint beherrscht zu werden von Ishvara, dem persönlichen Gott, der schöpft, erhält und zerstört. In Wahrheit gibt es nur Brahman. Das Universum in Zeit und Raum erscheint nur. Er ist wie ein Traum, wie eine Schlange in einem Seil oder eine Fata Morgana in der Wüste. Du Selbst und Jeder ist Brahman.

Als Selbst (Atman) identifiziert sich der Einzelne mit einem Teil von Maya, mit den sogenannten Upadhis, den begrenzenden Attributen. Es entsteht eine Identifikation. Man denkt „ich bin Körper, ich bin Psyche“ und bezieht vieles auf sich selbst. So geht man in Samsara Chakra, den Kreislauf von Geburt und Tod, ein.

In dieser Samudra Maya, dem Ozean der Maya, diesem Sukha Duka Samudra, dem Ozean von Vergnügen und Schmerz, sind immer wieder Höhen und Tiefen, Wellen.

Es entsteht Jiva, die individuelle Seele. Die individuelle Seele ist damit nicht zufrieden. Sie weiß, dass eigentlich alles Illusion ist. Tief im Inneren denkt sie „so kann es nicht sein“ und sehnt sich nach Befreiung.

Wie kommt sie zu dieser Befreiung? Mit Techniken aus dem Samkhya, aus Viveka (Unterscheidungskraft). Es geschieht nicht mit Identifikation und Sakshi Bhav (Beobachten). Uttara Mimamsa weist der Jnana, der Erkenntnis, besonderen Stellenwert zu. Einer der großen Postulate von Vedanta ist: Erkenne wer du wirklich bist. Frage dich, wer du bist. Erkenne dein Selbst, sei frei.

Vedanta sagt, es ist gut, zur Vorbereitung andere Praktiken zu üben, um zur Erkenntnis zu kommen. Damit sind Asanas, Pranayamas, ethisches Leben, Mantra-Singen, Reinigungen und Meditation gemeint. Das alles hilft, den Geist vorzubereiten. Dann frag: Wer bin ich? Erkenne dein Selbst, sei frei. Dann erkennst du, dass du immer schon reines Bewusstsein warst.

Für die Yogaübungen, insbesondere für die Meditation, heißt das, du bist jetzt schon vollkommen. Die Vollkommenheit brauchst du dir nicht zu verdienen. Du bist sie jetzt schon. Du bist aber in einer Illusion. Gehe humorvoll mit dir selbst und mit anderen um. Übe die Praktiken, aber nicht, um dir damit Verdienste einzufahren, sondern um leichter aus der Identifikation heraus und in den Beobachtungsmodus hinein zu kommen und dich schließlich zu fragen: Wer bin ich?

Alle Techniken sind Mittel zum Zweck und der Zweck ist die Verwirklichung von Ayam Atma Brahman. Dieses Selbst ist Brahman.

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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