Welche heiligen Schriften kennen die Inder? Welche Schriften gibt es im Hinduismus? Welche dieser Schriften sind besonders für Yoga relevant? Was sind die wichtigsten Yogaschriften?
Zunächst werden die klassischen Schriften erwähnt, die als orthodoxe Schriften bezeichnet werden. Dies sind die Schriften, die im heutigen Hinduismus als verbindlich gelten. Sie liegen dem Yoga zugrunde, sind aber nur teilweise für Yoga von Bedeutung. Dann werden spätere heilige Schriften besprochen, die zum Teil für Yoga von Bedeutung sind. Danach werden die vier wichtigsten Schriften für das ganzheitliche Yoga erklärt. Insbesondere sind diese im Yoga Vedanta wichtig, wie auch im Yoga Sivananda System und damit bei Yoga Vidya.
Die vier klassischen Schriften
Die vier klassischen Schriften nennen sich Veda, Smriti, Purana und Itihasa. Veda bedeutet wörtlich „das Wissen“. Dies sind die Schriften, die das uralte Wissen beschreiben. Veda wird bezeichnet als Shruti („das Offenbarte“). Die Veden wurden den Rishis (uralte Seher aus der Vergangenheit) offenbart. Die Rishis waren in überbewussten Zuständen, aus welchen ihnen das höhere Wissen offenbart wurde und wodurch die Veden entstehen konnten. Diese Offenbarungen manifestierten sich in vier verschiedenen Sammlungen.
Die Veden
Ein großer Heiliger namens Veda Vyasa hat diese Veden gesammelt. Veda Vyasa bedeutet „der Sammler der Veden“(Vyasa = Sammler). Zur Zeit Veda Vyasas gab es viele Überlieferungen. Die Rishis gaben ihren Schülern die heiligen Hymnen weiter. Sie wurden in mündlicher Form weitergegeben. Vyasa sammelte sie und machte daraus vier Hauptkomplexe: Rigveda, Samaveda, Yajurveda, Atharvaveda.
Jede Veda hat vier Untergruppen. Veden sind letztlich Sammlungen von Schriften aus unterschiedlichen Zeiten, von unterschiedlichen Rishis, die in einem losen System gesammelt sind. Sie sind ähnlich der christlichen oder der jüdischen Bibel, die nicht in einem entstanden sind, sondern über Jahrhunderte. Es gibt unterschiedliche Aussagen darüber, wann die Veden in die Welt gekommen sind. Diese über viele Jahrhunderte mündlich überlieferten Schriften haben Mantra-Charakter. Es heißt, dass die Klangschwingung noch wichtiger ist, als die Bedeutung. Manche Veden haben einen eigenartigen Inhalt, d.h. wenn man sie wörtlich übersetzt, klingen sie schräg. Manche Teile sind sehr erhebend in ihrer Bedeutung und wirken erhebend wenn man sie rezitiert bekommt, insbesondere von jemandem, der geübt darin ist. Die Veden wurden über viele Jahrhunderte mündlich überliefert, bis sie irgendwann niedergeschrieben wurden.
Rigveda ist der erste Teil der Veden. Darin geht es um die Schöpfung und Fragen wie: Was ist die Welt? Worum geht es in dieser Welt? Yajurveda ist der Verehrungsveda. Dort geht es um Yajna, die Formen der Gottesverehrung. Feuerrituale nehmen hier eine besondere Bedeutung ein. Samaveda, der Veda des Gesanges, beinhaltet besonders hymnische Schriften und Atharvaveda, der manchmal als der „dunkle Veda“ bezeichnet wird. Darin wird eine Geheimwissenschaft behandelt. Manche bezeichnen diese als vier verschiedene Rezitationsformen, insbesondere hat Samaveda eine spezielle Rezitationsform.
In jedem der vier Veden gibt es vier Teile: die Samhitas, die Brahmanas, die Aranyakas und die Upanishads.
Die Samhitas sind die ältesten Teile, die ursprünglich offenbarten Teile mit besonders starkem Mantra-Charakter, die man z. B. bei Pujas rezitieren kann. Es sind starke Hymnen.
Der zweite Teil, die Brahmanas, beschreibt, wie man die Samhitas in brahmanischen Ritualen nutzt, wie man sie einsetzt für Puja, für Yajna, usw. Darin ist beschrieben, wie sie verwendet werden. Die Brahmanas sind zwar besonders für Brahmanen gedacht, für andere sind sie aber auch durchaus wichtig. Brahmanas sind besonders umfangreich und haben einige Aussagen über die Welt als Ganzes.
Die Aranyakas (Waldschriften) sind ursprünglich für Menschen gedacht, die in Vanaprastha (Waldeinsamkeit) hineingehen. Sie beschreiben auch spirituelle Praktiken.
Der letzte Teil, Upanishad, ist ursprünglich gedacht für Menschen im vierten Lebensalter (Sannyasa), die Allem entsagen und zum Höchsten kommen wollen. Dies ist der Teil der Veden, wo es um metaphysische Fragen geht, um die Transzendenz und Fragen wie: Wer bin ich? Was ist die Welt? Was ist Gott? Wie erreiche ich die Gottverwirklichung?
In den klassischen Schriften wird von 108 Upanishaden gesprochen, wobei es unterschiedliche Aussagen gibt, welche Teile der Veden als Upanishaden klassifiziert werden.
Die Smritis
Smritis („das Überlieferte“/„das Erinnerte“) sind Gesetzestexte und Anwendungen der spirituellen Prinzipien für den Alltag.
Es gibt zwei Hauptsmritis: Manusmriti und Yajnavalkya Smriti. Diese gelten als die alten Smritis; später gab es noch weitere. In Analogie dazu gibt es in der Yoga Vidya Gemeinschaft ein Regelwerk für Sevakas, das sich Yoga Vidya Smriti nennt. Es ist eine Art Ordensregel, wie wir gemeinsam leben wollen, d. h. nach welchen ethischen Prinzipien, wie Entscheidungen getroffen werden und wie die spirituellen Prinzipien im Alltag gelebt werden sollen.
Puranas
Die Puranas sind die uralten Schriften, insbesondere aber Göttergeschichten. Die Puranas gliedern sich in drei Hauptteile. Insgesamt gibt es 18 solcher Puranas, z. B. die Shiva Puranas, die besonders Shiva verehren und andere Aspekte von Shiva wie Ganesha, Subrahmanya. In den Vishnu Puranas geht es um Vishnu und seine verschiedenen Inkarnationen wie Rama und Krishna, und in den Shakti Puranas geht es um die göttliche Mutter und damit um Durga, vor allem auch um Kali und viele andere Manifestationen der göttlichen Mutter.
Die Puranas gelten als ältere Schriften als die Shrutis und die Smritis. Hier finden sich die Hauptrichtungen des Hinduismus: der Shaivismus, Vaishnavismus, Shaktismus. Im Deutschen werden diese auch Shivaismus, Vishnuismus und Tantra bzw. Tantrismus genannt.
Die Yoga Vidya Tradition ist, wie die Yoga Vedanta Tradition, eine übergreifende Tradition, in der alle Aspekte eine Rolle spielen. Bei den Hare Krishnas spielt z. B. nur der Vishnu-Aspekt eine besondere Rolle.
Puranas sind besonders umfangreich und enthalten viele Göttergeschichten. Bekannt ist z. B. die Markandeya Purana. Hier wird die göttliche Mutter beschrieben. Devi Mahatmya, ein Teil dieser Purana, wird gerne zu Navaratri rezitiert. Die Bhagavatam ist die Schrift, die besonders Vishnu in seinen Inkarnationen verehrt, v. a. Krishna. Die Shiva Purana ist besonders wichtig zur Verehrung von Shiva.
Itihasa
Die Itihasa sind Heldenepen. Sie sind ähnlich der Ilya und Odyssee von Homer. Hier werden spirituelle Fragen im Kontext von Geschichten und Menschen diskutiert, die sich bemühen, das Richtige zu tun. Die wichtigsten Itihasas sind Ramayana und Mahabharata. Ramayana ist die Geschichte von Rama. Die Mahabharata ist die Geschichte über ein Herrschergeschlecht, begonnen mit den Bharatas. Diese enthalten als zentralen Text die Bhagavad Gita.
Sowohl die Puranas als auch die Itihasas wollen helfen, das ethisch Richtige zu tun, indem sie viele ethische Geschichten und Beispiele enthalten, wie Menschen falsche Entscheidungen getroffen haben, wie Gott helfen kann und wie man als fortgeschrittener Aspirant wieder fallen kann. Als fortgeschrittener Aspirant ist es nicht immer einfach zu verstehen, was das Richtige ist.
Die Schriften sind sehr umfangreich und müssen von verschiedenen Gesichtspunkten aus interpretiert werden. Diese werden Darshana genannt. Aus dem gesamten Schrifttum und aus späteren Schriften werden bestimmte Gesichtspunkte zusammengetragen, um ein spirituelles System in einer bestimmten Weltanschauung und bestimmte Sichtweisen zu haben. Es ist ein praktisches System mit der Frage, wie man zur Gottverwirklichung kommt.
Es gibt weitere Schriften, die zwar nicht verbindlich sind, aber als spirituell gelten. Drei davon sind Agamas, Göttergeschichten späterer Zeit. Ebenfalls darin enthalten sind Shiva-, Vishnu- und Shakti-Agamas. Die Agamas bauen auf den Puranas auf. Unter den Agamas gibt es die sogenannten Tantras, d. h. Schriften, die sich mit der Verehrung der göttlichen Mutter Devi/ Shakti beschäftigen. Einige davon sind im Yoga von besonderer Bedeutung, nämlich die Hatha Yoga Schriften.
Außerdem gibt es die Sutras („Leitfäden“). Bekannt ist v. a. das Yoga Sutra, das im Rahmen der zweijährigen Yogalehrerausbildung behandelt wird. Sutras gibt es für verschiedene Aspekte des Yoga. Im Brahma Sutra geht es um Vedanta, im Bhakti Sutra um die Entwicklung von Bhakti und im Yoga Sutra um Raja Yoga.
Welche dieser Schriften sind für das ganzheitliche Yoga der Yoga Vidya Tradition von Bedeutung?
Bei Yoga Vidya spielen vier Schriften eine Hauptrolle, drei davon werden in der zweijährigen Yogalehrerausbildung behandelt. Zu allen vieren gibt es neuntägige Weiterbildungen. Die Erste – Upanishad oder die Upanishaden – ist der letzte Teil der Veden, der letzte Teil von Shruti. Hier geht es ganz besonders um Vedanta und damit um Jnana Yoga. Die zweite wichtige Schrift ist die Bhagavad Gita, die ein Teil des Mahabharata darstellt und einer der beiden Teile der Itihasas ist. Die Bhagavad Gita behandelt alle Yoga Wege, besonders Karma und Bhakti Yoga. Die Yoga Sutra, eine der wichtigen Sutras, geschrieben von Patanjali, behandelt Raja Yoga. Die Hatha Yoga Pradipika, wörtlich „Licht auf Hatha Yoga“ wurde geschrieben von Yogi Svatmarama und ist von besonderer Bedeutung für Hatha- und Kundalini Yoga.
Es gibt noch viele weitere Schriften (Panchadashi, Tantra, Shiva Samhita, Bhakti Sutra, etc.). Sie sollen Hilfestellung fürs Praktizieren geben. Über die Erfahrung kommt die Höchste Verwirklichung der Einheit.
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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.
Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.
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