In den letzten Texten schrieb ich über Sattva, Rajas und Tamas, wie wichtig es ist sattwig zu leben. Ich hatte davon geschrieben wie man den Beruf spiritualisiert, Partnerschaft spiritualisiert. Ich hatte auch schon etwas über sattwige Ernährung geschrieben und über die Wichtigkeit an sich selbst zu arbeiten. Ich hatte geschrieben über die verschiedenen spirituellen Praktiken. Das letzte Mal auch über die 5 K, die fünf Dinge, die man keinesfalls zu sich nehmen sollte.

Auf dem spirituellen Weg ist aber auch wichtig, dass man es realistisch herangeht. Und letztlich geht es auch um Dharma, das heißt seine eigenen Talente leben oder auch sich selbst kennenlernen und würdigen lernen. Man kann sagen das ist auch ein Aspekt von Selbstliebe.

Was soll das genau heißen? Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Temperamente. Und es ist wichtig, dass du realistisch an den spirituellen Weg herangehst und keine Ideale hast, die deinem Temperament letztlich widersprechen. Der Tipp ist nämlich: lebe dein Temperament. Lebe es auf sattvige Weise. Aber identifiziere dich nicht mit deinem Temperament und lass dich auch nicht durch dein Temperament begrenzen. Ich gebe ein Beispiel. So wird es am leichtesten.

Angenommen du hast ein zyklothymes Temperament. Das wäre zum Beispiel himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Wenn du ein solches Temperament hast, dann magst du erwarten, dass wenn du Yoga übst die Tiefen weggehen und du nur noch euphorisch bist. Das ist unrealistisch. Wenn du ein zyklothymes Temperament hast, dann wirst du das höchstwahrscheinlich auch haben, wenn du spirituell praktizierst. Es gibt Ausnahmen. Ich kenne Menschen, die sagen, dass sie vor Beginn ihrer Spiritualität, immer ihre Hochs und ihre Tiefs hatten und dass seitdem sie Yoga machen, sie insgesamt doch eine gleichmäßige Gelassenheit haben. Es gibt zwar kleinere Schwankungen, aber nicht mehr die großen wie vorher. Das kann geschehen. Und wenn es geschieht, sei dankbar dafür. Doch das geschieht mehr oder weniger von selbst. Es geschieht. Dazu braucht es keine besondere Anstrengung. Du musst nur täglich deine Asanas, Pranayama und Meditation üben, einen Sinn in deinem Leben sehen. Und wenn dann manches von dir abfällt, dann war das nicht wirklich etwas, was du in der Tiefe deines Wesens warst.

Aber wenn du wirklich jemand bist mit zyklothymen Temperament, dann wirst du das auch bleiben, wenn du Yoga übst. Du wirst es nur anders sein können. Dann kann es sein, dass du Hochenergiephasen und Niedrigenergiephasen hast. Und beide haben wichtige Aspekte, Lernaspekte. Erwarte nicht vom spirituellen Weg, dass du ab da nur noch Hochs hast.

Selbstliebe ist ja auch ein wichtiges Wort oder Selbstakzeptanz. Wenn du überlegen würdest, angenommen, ich hätte weder die Hochs noch die Tiefs, wäre mir das lieber? Wenn du jemand mit zyklothymen Temperament bist, würdest du sagen, nein. Einfach so gemäßigt das will ich nicht sein.

Wenn der Preis für meine Hochs ist, dass ich auch Tiefs haben muss, dann bin ich bereit diesen Preis zu zahlen.

Und so solltest du mit zyklothymen Temperament dir überlegen, wie wird deine Praxis sein in deinen enthusiastischen Hochenergiephasen? Vielleicht werden die Praktiken intensiver sein. Vielleicht werden sie mehr sein. Oder müssen sie ausgleichend sein. Vielleicht werden sie euphorischer sein. Es kann auch anders sein.

Und du kannst dir überlegen wie werden meine spirituellen Praktiken sein in Niedrigenergiephasen? Wichtig ist, dass du in den Niedrigenergiephasen auch wirklich praktizierst und nicht aus lauter Enttäuschung, dass du jetzt doch wieder in deine Melancholie hinein gestürzt bist, ganz aufhörst mit spirituellen Praktiken.

Wenn du also grade jetzt in einem Hoch bist oder auf einem aufsteigenden Ast oder merkst schon, es kann demnächst kippen, dann überlege schon, wie wirst du praktizieren in der Niedrigenergiephase, in der melancholischen Phase, in der Verzweiflungsphase? Vielleicht wirst du weniger praktizieren. Vielleicht wirst du mehr schlafen müssen. Oder du wirst anders praktizieren müssen. Vielleicht wirst du auf Sonnengruß verzichten und einfach direkt mit der ersten Asana beginnen. Vielleicht wirst du mehr meditieren oder weniger meditieren. Oder du wirst mehr oder weniger Pranayama machen. Es ist gut als Mensch mit zyklothymen Temperament zu überlegen, wie sieht meine Hochenergiepraxis aus und wie sieht meine Niedrigenergiepraxis aus?

 

Zweiter Aspekt von Temperament ist Introversion und Extroversion. Es gibt eher introvertierte Menschen. Es gibt eher extrovertierte Menschen. Introvertierte Menschen sollten jetzt nicht denken, dass sowie sie Yoga machen zu euphorischen Menschen werden, die jetzt mit allen Menschen leicht Kontakt haben. Sondern du kannst es wertschätzen, dass du gerne allein bist, allein mit dir sein kannst, dass du Kraft bekommst in dir selbst. Und dann lass dich nicht durch die Introversion behindern. Gehe auch die ja auch auf andere zu. Überwinde deine Schüchternheit und Yoga wird die dabei helfen. Mit Yoga hast du mehr Energie, mehr Mut, mehr Selbstvertrauen. Aber ein bisschen eigenes Bemühen braucht es auch.

Wenn du extrovertiert bist, dann denke jetzt nicht, dass du zu einem Menschen wirst, der jetzt nur alleine mit sich selbst zufrieden ist und dass du nur noch schweigen wirst und endlich aufhörst dich mit oberflächlichen Menschen zu beschäftigen und ab jetzt nur noch den ganz wichtigen Dingen des Lebens folgst.

Als extrovertierter Mensch brauchst du Gesellschaft von anderen Menschen. Und die müssen auch nicht alle genauso spirituell sein wie die, die du idealerweise hättest. Aber als extrovertierter Mensch nimm dir Zeit für deine Praktiken. Verbinde deinen überschäumenden Enthusiasmus mit Liebe. Erwarte von Anderen nicht zu viel. Freue dich. Sieh das Göttliche in Allen.

Eine weitere Form von Temperament, die ich jetzt hier herausgreifen möchte, ist Ängstlichkeit bis Paranoia. Jetzt nicht die psychotische Paranoia, die ist behandlungsbedürftig durch einen Psychiater. Sondern Angst, die jemand ständig hat vor allem Möglichen. Ich möchte hier gerade verweisen auf mein Buch „Der Königsweg zu Gelassenheit“, oder auch die Videoreihe über Tugenden und Schattenseiten. Da gibt es eine Reihe von 2.700 Videos. Angenommen du bist ein Mensch, der eher zu Ängstlichkeit neigt, dann wirst du vermutlich auch künftig sehen, was für Gefahren dort sind. Eventuell hast du eine bestimmte Neigung des Vata-Temperamentes. Vielleicht hast du ein introvertiertes Vata-Temperament.

Vata ist ein Ausdruck aus dem Ayurveda. Man sieht was alles schiefgehen könnte und man spürt alles. Du könntest dich als Frühwarnsystem begreifen. Ängstliche Menschen sehen viele Gefahren und bereiten sich vielleicht vor, müssen aber auch zwischendurch den Mut bekommen sich nicht von der Ängstlichkeit beherrschen zu lassen.

Ich kenne einige langjährige spirituelle Menschen, für die ist es immer noch eine Überwindung zum Beispiel einen Yogakurs zu geben und sie äußern immer noch tausend Bedenken, wenn man ein neues Projekt beginnt. Das ist nichts Schlechtes. Solche Menschen sind auch wichtig. Es ist wichtig sich bewusst zu machen, das doch einiges schiefgehen kann. Und es ist auch wichtig, dass man sich gut vorbereitet auf etwas. Wenn du also ein ängstlicher Mensch bist, dann erwarte nicht, dass du jetzt ein Mensch voller Optimismus werden wirst. Sondern liebe dich auch dafür, dass du die Schwierigkeit siehst. Bereite dich besser vor. Sei dir bewusst, dass es vielleicht deine Aufgabe auch ist, Dinge zu erwähnen, die schiefgehen können. Entwickle aber auch Mut. Lass dich nicht von deiner Ängstlichkeit beherrschen. Ja, und Yoga hilft dir auch mit Atemübungen, mit Meditation, mit anderen Körperübungen Prana zu bekommen, Selbstvertrauen zu bekommen um Schüchternheit und Ängstlichkeit zu überwinden.

Dann gibt es noch das melancholische Temperament. Also Menschen, die immer wieder am Sinn des Lebens verzweifeln, Menschen, die immer wieder sehen wie viel Hohlheit in dieser Welt ist, Menschen, die das Leiden in der Welt in hohem Maße sehen.

Wenn du jetzt Yoga übst, dann erwarte nicht, dass du immer euphorisch bist. Vielleicht wirst du euphorische Phasen haben. Aber wertschätze dich selbst auch für dieses Temperament. In unserer heutigen Zeit werden die Melancholiker viel zu wenig wertgeschätzt. Es gibt sehr viele große Denker, die melancholisch waren. Von Schopenhauer über Goethe, vermutlich auch der Buddha, denn die erste der vier edlen Wahrheiten ist „Alles Leben ist Leiden“, und viele andere.

Daran siehst du: auch Melancholiker können tief denken. Und indem du dir bewusst machst, das Leid der Welt zu sehen, die Oberflächlichkeit zu durchschauen siehst du tief und du blickst durch, worum es dort geht im Leben. Wertschätze dich dafür und spiritualisiere es, so kannst du Vairagya und Viveka entwickeln. Aber bleibe dort nicht hängen. Es gibt noch etwas Tieferes als Melancholie. Und das ist die Freude und die Liebe des Selbst. Wenn es dir zwischendurch immer wieder gelingt Herzensverbindung zu anderen Menschen aufzunehmen, dich zu öffnen für den göttlichen Segen, findest du Freude in der Tiefe.

Du wirst vielleicht auch nach Yoga weniger oberflächliche Freude empfinden. Dafür wirst du tiefer blicken und vielleicht weniger Versuchungen zum Opfer fallen. Aber du wirst zur großen Freude kommen. Nicht umsonst werden die Bilder und die Statuen von Buddha immer von großer Freude gekennzeichnet sein. Durch das Annehmen des Leides in dieser Welt könnend die Melancholiker über das Leiden hinaus wachsen und tiefe Freude, Liebe und Mitgefühl erfahren.

Ähnlich ist es auch mit Pessimisten. Pessimisten sind solche, die sehen was alles schiefgehen kann. Und die sich deshalb darauf vorbereiten. Wenn du ein Pessimist bist, erwarte nicht, dass du durch das Yoga zum Optimisten wirst. Du wirst vielleicht Pessimist bleiben und wertvoll sein, weil du zum einen siehst, was schiefgehen kann. Deshalb wirst du vielleicht eine gesündere Ernährung haben. Deshalb wirst du vielleicht konsequenter sein mit Gesundheitstipps, deshalb wirst du zum Beispiel, wenn du etwas Neues angehst, genauer schauen was alles schiefgehen kann und dich darauf vorbereiten.

Deshalb wirst du vielleicht in deinem Verein oder bei deiner Arbeit Andere auch darauf aufmerksam machen, was schiefgehen kann und sorgst so für den gesamtheitlichen Erfolg.

Schätze dich also auch für deine Fähigkeit zum Pessimismus. Aber gehe noch tiefer. Denn in der Tiefe heißt Spiritualität Vertrauen in Gott. Letztlich auch die Dinge, die schiefgehen, haben einen Sinn.

Auch die Probleme die kommen sind Aufgaben, an denen man wachsen kann. Und hinter allem ist die göttliche Wirklichkeit.

Das waren jetzt nur ein paar Anregungen zum Thema eigenes Temperament annehmen, spirituelle Selbstliebe entwickeln.

Überlege jetzt selbst, welche Aspekte hast du in deinem Temperament? Überlege, welche positiven Aspekte dein Temperament hat und wie du es spirituell leben kannst. Aber überlege auch, dass du dich nicht beherrschen lassen willst von diesem Temperament, vielleicht welche ergänzenden Aspekte du auch in dir hast, die auch gelebt werden wollen und die du leben kannst für Gutes in der Welt, für ein volles Leben um Gutes zu bewirken und für spirituelle Entwicklung. Und mache dir bewusst; ich bin nicht Körper und Geist. Unsterbliches Selbst bin ich. Ich bin nicht die Psyche. Ich bin auch nicht das Temperament und die Persönlichkeit. Ich habe einen Körper, eine Psyche, ein Temperament mit vielen Eigenschaften. Und ich kann etwas tun für meinen Körper. Ich kann meine Psyche entwickeln. Und ich bin das unsterbliche Selbst.

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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