YVS034 Der spirituelle Weg – Einführung

Was ist Spiritualität? Was heißt spirituelles Leben? Was hat es mit dem spirituellen Weg auf sich? Was ist das Ziel des spirituellen Weges? Welche Entwicklungen gibt es auf dem spirituellen Weg? Welche Gefahren und Stolpersteine gibt es auf dem spirituellen Weg? Und woran erkennt man, welche Aufgaben man auf den verschiedenen Ebenen und Stufen des spirituellen Weges hat? 

Zunächst zur ersten Frage: Was ist Spiritualität? Das Wort ist vom lateinischen abgeleitet und bedeutet soviel wie „Geist, Seele, höheres Bewusstsein.“ Spiritualität bedeutet, sein Leben auf eine höhere Wirklichkeit auszurichten. Der erste Schritt zu einem spirituellen Leben ist, anzuerkennen, dass es eine höhere Wirklichkeit gibt, die erfahrbar ist. Im zweiten Schritt muss der Wille in einem wachsen, diese höhere Wirklichkeit zu erfahren. Im dritten Schritt muss sich die Hoffnung auf diese Erfahrung und das Durchhaltevermögen in einem Selbst entwickeln, alles für dieses Erfahren einer höheren Wirklichkeit zu tun. Es muss sich also eine spirituelle Lebens- und Weltsicht entwickeln.  

Spiritualität kann natürlich unterschiedlich definiert werden. Ein spiritueller Meister des 20. Jahrhunderts namens Graf Dürckheim hat Spiritualität allerdings sehr schön auf den Punkt gebracht: „Spiritualität ist Transparenz zum immanent Transzendenten.“ Aber was heißt das? Transparenz bedeutet soviel wie durchlässig sein. Transzendent ist das, was über die Transparenz hinausgeht, insbesondere über das, was wir im Alltagsbewusstsein mit unseren Sinnen wahrnehmen. Immanent bedeutet “innewohnend”. Spiritualität geht davon aus, dass hinter allen Phänomenen eine höhere Wirklichkeit ist und diese in allem innewohnt, also in allem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen. Hinter Allem verbirgt sich eine höhere Wirklichkeit. Wir könnten auch sagen, hinter Allem verbirgt sich das Göttliche, ein Numinosis, eine kosmische Intelligenz oder Energie.

Spiritualität heißt also Transparenz zu entwickeln. Transparent zu sein, heißt zum einen, dass wir in dem, was von außen auf uns zukommt, das zu sehen, was dort immanent transzendent ist. Ein spiritueller Mensch sieht nicht nur einen Baum, wenn er einen Baum sieht, sondern er sieht in dem Baum das Göttliche. Ein spiritueller Mensch sieht in einem Menschen, nicht nur einen Menschen, sondern ein göttliches Wesen, das dort durchscheint und spricht. Diese immanente Transzendenz gibt es auch in dir. Ein spiritueller Mensch spürt in sich selbst dieses Göttliche. Und ein spiritueller Mensch hat den Wunsch, dass dieses Göttliche durch ihn hindurch wirkt, er transparent wird und dass das immanent Transzendente in anderen zu ihm wirkt. Ein spiritueller Mensch möchte sich nach dem Göttlichen ihm gegenüber und in sich selbst richten.  

Spiritualität ist das, was alle Religionen verbindet. Spiritualität und Religiosität sind nicht unbedingt dasselbe: Religion kann Spiritualität bedeuten, kann aber auch einfach nur eine Art Glaube sein, die Hoffnung, dass, wenn man einer Religion angehörig und im Wesentlichen die Empfehlungen dieser Religion umsetzt, die Erlösung erfährt. Bei dieser Art von Religion kommt es nicht darauf an, in diesem Leben wirklich Gott zu erfahren oder zu verwirklichen, sondern man verschiebt letztlich diese Gotteserfahrung auf nach dem Tod. Dann ist Religion reiner Glaube, kultureller Lebensstil, man hofft, aber man “erfährt“ nicht. 

Der spirituelle Mensch ist ungeduldiger, er will nicht warten bis er tot ist, um Gott oder die höhere Wirklichkeit zu erfahren, sondern er möchte dies in diesem Leben tun. Es gibt im Gegensatz dazu aber auch Spiritualität ohne eine konkrete Religion. Es gibt spirituelle Menschen, die sich nicht einer Religion zugehörig fühlen. Sie fühlen sich spirituell, aber nicht religiös. Heutzutage würde man sagen, dass zumindest in Europa die meisten religiösen Menschen auch spirituell sind. Wer heutzutage den christlichen Weg geht, der will nicht bis nach dem Tod warten und er vertraut nicht einfach auf die Erlösung nach dem Tod, sondern er geht davon aus oder erhofft in diesem Leben Gott zu erfahren und spürt auch die Gegenwart des Göttlichen. Aber es gibt spirituelle Menschen, die nicht religiös sind. Wenn jemand religiös ist ohne spirituell zu sein, dann kann es viele Probleme geben. Wenn jemand vor allem spirituell ist, erkennt er die Gemeinsamkeiten zu allen Religionen und weiß auch, dass ohne konkreten religiösen Kontext Spiritualität möglich ist. 

Spiritualität ist nicht nur eine theoretische Philosophie, nicht nur ein Glaube, sondern in der Spiritualität geht es um Erfahrung. Man will das Göttliche erfahren und man will aus der Erfahrung des Göttlichen heraus handeln. Man will dem Leben einen höheren Sinn geben.  

Es heißt ja “spiritueller Weg”, das bedeutet, dass wir einen Weg gehen, eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen. Der Weg fängt irgendwo an und hat ein Ziel. “Weg” bedeutet, wir wollen irgendwohin gehen und einen Sinn im Leben finden. Das Wort “Weg” hat eine wunderschöne Symbolik: Wir befinden uns an einem Punkt unserer spirituellen Entwicklung, wir haben auch schon eine gewisse Strecke hinter uns gebracht – ob bewusst oder unbewusst – und wir wollen zur Erleuchtung, zur Gottverwirklichung, zur Gotteinheit, unio mystica, Satori, zur Nirvikalpa Samadhi, zu Moksha, zu Kaivalya gelangen.

So viele verschiedene Worte haben die spirituellen Traditionen für dieses Ziel – die Erleuchtung - gefunden. Dort wollen wir hinkommen und es gibt einen Weg dorthin. Ein Weg hat auch verschiedene Etappen und ein Weg hat verschiedene Strecken. Und es gibt immer wieder Abzweigungen. Da mag es Abzweigungen geben, die einen in Richtung unseres Zieles führen und es gibt Abzweigungen, die uns auch woanders hinführen. Auf dem Weg dorthin kann es auch sein, dass man mal stolpert und der Weg ist manchmal steinig und manchmal eben oder er hat tiefe Furchen. Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen. Es kann auch sein, dass man mal eine Weile irgendwo Rast macht oder verweilt. Aber irgendwann kommt man zum Ziel und erfährt sich selbst als Eins mit dem Unendlichen.

Auf den verschiedenen Etappen des spirituellen Weges werden uns auch immer wieder Aufgaben gestellt, die es zu lösen gilt, es gibt Stolpersteine, über die man fallen kann.

In dieser Vortragsreihe möchte ich über die verschiedenen Entwicklungsstufen auf dem spirituellen Weg, über die Aufgaben und darüber sprechen, wie man die Stolperfallen auf dem spirituellen Weg erkennt. Was es heißt, seinen spirituellen Weg zu gehen. Wie man erkennt, welchen Schritt man als Nächstes zu gehen hat und welche Abzweigung man nehmen soll.  

 

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Auszug aus der Transkription der Yoga Vidya Schulung Videoreihe, Begleitvorträge zur Yogalehrer Ausbildung, von und mit Sukadev Bretz.

Mehr zum ganzheitlichen Yoga findest zu z.B. auch in seinen Büchern „Der Pfad zur Gelassenheit“ und „Die Bhagavad Gita für Menschen von heute“.

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