Ich möchte eine kurze Sufi-Geschichte über Jesus erzählen. Sufi-Geschichten haben Tiefe und es wird von ihnen gesagt, dass man jede auf sieben verschiedenen Ebenen verstehen kann. Auf der vordergründigen, ersten Ebene haben sie alle am Ende eine Pointe, über die man herzhaft lachen oder wenigstens schmunzeln muss. Das fehlt der folgenden Geschichte vollkommen. Vielleicht kommen einem aber Tränen – und das könnte sich als wertvoller erweisen.
Jesus war mit seinen Jüngern unterwegs auf der Landstraße zur nächsten Stadt, wo er in der Synagoge zu den Menschen sprechen wollte. Wenn sie ihn ließen. Denn meistens umringten sie ihn und wollten von diesem oder jenem Wehwehchen geheilt werden und waren an seinen Wahrheiten weit weniger interessiert.
An der Landstraße saß ein Mann, der bettelte. Als sie näher hinkamen, erhob er sich und ging auf Jesus zu. „Kennst du mich noch“, fragte er den Meister, „du hast mich vor einiger Zeit von meiner Blindheit geheilt“. „Wie geht es dir jetzt, mein Bruder“, entgegnete Jesus, „ich sehe, du bettelst immer noch, hat sich denn nichts geändert in deinem Leben?“ Da kam der Mann ganz nah heran und blickte Jesus direkt in die Augen, während er sprach: „Solange ich blind war, war die Welt doch wenigstens erträglich für mich. Jetzt, seit ich sehen kann, ist sie unerträglich geworden.“ Da nahm ihn Jesus lange in den Arm und weinte mit ihm.
(Nacherzählt von Bhajan Noam in seinem Buch "Café Kailash")
Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com
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