Vairagya kann man auch Wunschlosigkeit nennen. Aber das trifft es nicht wirklich. Solange man Mensch ist, wird man Wünsche haben, das ist letztlich ein Teil des Menschseins. Auch selbstverwirklichte Meister wie Swami Sivananda hatten ihr Lieblingsessen, eine Temperatur, die sie besonders gerne hatten und ein gewisses Mögen und Nicht-Mögen von Umständen. Der Unterschied ist nur, dass sie nicht daran verhaftet sind.
Vairagya ist kein Verhalten, das aus persönlichem, individuellem Mögen entsteht, sondern ein Verhalten, das aus etwas Tieferem kommt. Mögen und Nicht-Mögen sind ja letztlich – man kann sagen – Daumenregeln der Natur, was gut für einen selbst und das Überleben ist und was nicht. Zum Beispiel brauche ich mir nicht überlegen, ob ich jetzt diese Uhr hier essen sollte oder nicht. Da hat die Natur gesagt, Plastik ist nicht essbar, also hat man auch kein Mögen dafür. Allerdings: Nicht alles, was ich mag, sollte ich regelmäßig essen, denn gerade mit unserer modernen Zivilisation ist es uns ja gelungen, alle möglichen Dinge, die in der Natur nicht vorkommen, so zusammenzustellen, dass man sie mag.
Mögen und Nicht-Mögen ist erstmal nichts Schlechtes. Es ist der Ausdruck einer Intelligenz, die man – man kann sagen – den ersten Grad von Intelligenz nennen kann. Relativ häufig ist diese viel klüger als manche andere Intelligenzen. Nur wenn wir davon abhängig sind, wird es schwierig.
Angenommen, ich hätte einen großen Wunsch nach Mangos. Ich würde denken: „Ich will heute Abend unbedingt Mangos essen.“ Was wäre das Problem? Es gibt vielleicht gerade keine Mangos. Die Geschäfte hätten erst am nächsten Morgen um acht Uhr wieder auf. Wenn ich jetzt denken würde, ich bräuchte die Mangos jetzt unbedingt, dann würde ich anfangen zu leiden. Wenn ich aber sage: „Gut, ich mag Mangos, vielleicht habe ich auch irgendeinen Bedarf nach dieser besonderen Süßigkeit und das ist ja ganz schön.“ Und wenn ich die Mangos trotzdem nicht unbedingt haben will, dann kann ich anders damit umgehen. Ich kann gucken, ob ich die Mangos morgen bekommen kann. Und wenn nicht, dann kann ich gucken: „Was mag ich denn noch?“ Oder ich kann lernen, etwas zu tun, was nicht davon abhängig ist, ob ich Mangos habe.
Das Gleiche gilt auch im Umgang mit anderen Menschen. Manchmal mögen wir es, wie andere Menschen sich verhalten und manchmal nicht. Oder wir haben eine Vorstellung davon, wie die Dinge auszugehen haben. Oder wir haben eine Vorliebe dafür, wie unser Körper sich verhält. Diese Art von Mögen ist auch eine instinktive Intelligenz, sie mag ihren Sinn haben und manche Menschen müssten vielleicht ab und zu mal etwas mehr auf diese Art von Intelligenz hören. Aber wenn wir davon abhängig sind, dann führt es uns ins Leiden.
Und so ist die Einstellung eines Yogis letztlich das bedingungslose Annehmen. Und das ist Vairagya. So können wir die verschiedenen Intelligenzen, die wir haben, nutzen. Wir haben die Instinkte, die sich als Mögen und Nicht-Mögen entwickelt haben. Wir haben unser Erfahrungswissen, das sich auch als Mögen und Nicht-Mögen entfaltet. Wir haben unser Bauchgefühl, das vielleicht etwas anderes ist als Mögen und Nicht-Mögen. Wir haben unsere Vernunft, wir haben eine Intuition, wir haben vielleicht einen Zugang zu einer höheren Wirklichkeit.
Freiheit heißt, von nichts von dem wirklich abhängig zu sein. Dahin kommen wir, wenn wir uns für das Göttliche öffnen. Aber selbst dabei müssen wir ein bisschen aufpassen. Es gibt viele Leute, die denken, sie wären vom Göttlichen inspiriert. Und dann schaffen sie furchtbare Dinge. Es gilt darum immer, eine gewisse Freiheit zu haben und dann das zu tun, was wir tun können - im Dienst an anderen und als Instrument im besten Wissen und Gewissen.
Swami Sivananda schreibt dazu auch: „Vairagya ist ein Mittel, um die Weisheit des Selbst zu erlangen. Vairagya ist nicht das Ziel an sich. Ein Jivanmukta, ein verwirklichter Weiser, hat weder Ragya, noch Vairagya. Wenn man ihm ein trockenes Brot gibt, ist er zufrieden. Wenn man ihm etwas Köstliches gibt, wird er auch zufrieden sein. Er hat Gelassenheit des Geistes, denn er oder sie findet Freude im Selbst, im Göttlichen hinter allen Dingen.“
Hari Om Tat Sat
Transkription eines Kurzvortrages von Sukadev Bretz im Anschluss an die Meditation im Satsang im Haus Yoga Vidya Bad Meinberg. Mehr Yoga Vorträge als mp3
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