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Bhajan Noam, Yogasutras: Nachlässigkeit ist keine Sünde

 

Auf den Tag folgt die Nacht, in der wir uns von unseren Tätigkeiten erholen. Doch auch während des Tages sind Pausen für unsere körperliche, psychische und geistige Gesundheit wichtig, genauso wie die Freizeit am Wochenende und die Urlaubstage im Verlauf des Jahres. Vielleicht hat sich der eine oder andere sogar angewöhnt, auch mal während einer Tätigkeit tief durchzuatmen, sich zu dehnen und zu strecken, die Muskulatur zu lockern, den Kopf zu schütteln, um allzu schwere Gedankenlasten wieder loszuwerden oder überbordenden Gefühlen die innere Wucht zu nehmen. Es gibt eine Sufi-Meditation, Latihan genannt, bei der man sich völlig unkontrolliert bewegt und die Stimme Laute und Gebrabbel von sich geben lässt ohne jeglichen Sinn. Das wirkt sehr entlastend für den Körper und befreiend für Psyche und Verstand. Man kommt dabei, wie von alleine, wieder an ein tief im eigenen Inneren schlummerndes Energiepotential. Man fühlt sich gereinigt und erfrischt, wie neu und ist wieder voller Tatendrang und Kreativität.

 

Nachlässigkeit ist keine Sünde. Mit dieser Aussage meine ich das oben Beschriebene, auch übertragen auf die eigene spirituelle Praxis, wie immer sie beim einzelnen aussehen mag. Konzentration braucht Entspannung, Einatem braucht den Ausatem und umgekehrt. In der katholischen Tradition kennt man die Gebets- und Fastenzeit, kennt man die Busübungen aus Reue über seine Sünden ebenso wie die Ausgelassenheit und hemmungslose Fröhlichkeit im Karneval oder bei Kirchweihfesten und ähnlichem. Nachlässigkeit ist eine Seeleneigenschaft, die durchaus gesund ist und ihre Berechtigung hat. Wie oft vernachlässigt ein Patient irgendwann die regelmäßige Einnahme seiner Tabletten – sein Körper ist es, der den Verstand im richtigen Moment vergessen lässt, wenn er spürt, dass es genug für ihn ist. In der jüdischen Tradition ist es eine vielleicht besonders kurios wirkende Geste der „Nachlässigkeit“, dass in den Wohnungen eine Zimmerwand oder –ecke unverputzt oder ungestrichen bleibt, gerade so, als hätte der Handwerker etwas vergessen oder mitten in der Arbeit die Lust verloren. Die vordergründige Bedeutung ist, dass es seit der Zerstörung des Tempels nichts Vollkommenes mehr gibt, es gilt als Ausdruck der täglichen Trauer über diesen Verlust. Die tiefere Bedeutung, die dahinter verborgen liegt, ist aber die vielleicht unbewusste Erkenntnis, dass selbst im Universum, in Gottes großartiger Schöpfung, keine Vollkommenheit herrscht – oder, dass gerade die kleinen Unvollkommenheiten im Detail die große umfassende Vollkommenheit ausmachen. Dass alle mathematischen Formeln, angewandt auf die Realität, immer ein bisschen danebenliegen, macht gerade die Lebendigkeit, Unvergänglichkeit, stetige Erneuerungsfähigkeit der unendlichen Schöpfung aus.

 

Nachlässigkeit in unserem oft streng geregelten Leben ist eine heilige Oase des Friedens. Nachlässigkeit in unserer oft ebenso durchgeplanten und strukturierten Übungspraxis ist die heilige Lücke, in die das Göttliche einzutreten vermag. Wo die Seele sich nicht frei erheben kann wie ein Vogel, wo der Geist sich nicht spontan öffnen kann, um eins zu werden mit der Unendlichkeit, bleiben wir trocken, unlebendig, unverwirklicht. Im Vergessen der Regeln gleiten wir unbemerkt in die Einheit. In der Nachlässigkeit verborgen liegt das ganze Potential freier Entfaltung, göttlicher Herrlichkeit, allmächtiger Schönheit und Freude. Doch dies sollte nicht zur Intension werden, nicht wieder zu einem neuen Gesetz erhoben werden. Wie man eine Knospe in ihrem Aufblühen nicht beschleunigen kann, wie niemand den besonderen Sonnenstrahl dafür, die kleine Temperaturschwankung und das richtige Maß an Dunkelheit vorauszuberechnen vermag, so sollten wir auch mit uns selbst stets in Gelassenheit bleiben, unserem vielleicht geringen Einsatz und dem großen Walten des Schöpfers vertrauen, der uns all die großartigen Ideen schenkte, wie auch zuletzt das Fallenlassen jener.

Nachlässigkeiten sind unwillkürliche Pausen, die sich das Körper-Verstand-System nimmt, um danach umso intensiver aus der Verbundenheit heraus lebendig aufzublühen. Genieße sie bewusst und ohne Gewissensbisse. Das Große Sein atmet und lebt dich, wie könnte da etwas falsch sein.

 

OM Shanti

 

 

Copyright: Bhajan Noam 2012

 

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