Atem, Meditation und die Brihadaranyaka Upanishad

Es gibt zwei Blickrichtungen, zwei Betrachtungsmöglichkeiten oder zwei Ausgangspunkte, aber beide sind nur  verschiedene Seiten derselben Münze. Wir können uns innerlich auf unseren Atem sammeln, ihn geschehen lassen und zugleich mit unserem Bewusstsein in dieses Geschehen eindringen. Das wird uns durch Übung möglich. Und dann geschieht es, dass wir unvermittelt in Meditation gelangen. Neben der totalen Sammlung auf den Atem ist kein Platz mehr für Gedanken. Das Denken hört auf, der Verstand kommt zur Ruhe, weil wir ganz beim Atem sind.

 

Die andere Möglichkeit ist, wir gehen mit oder ohne eine Technik in Meditation, in den Zustand reiner Bewusstheit und schauen uns dann den Atem an. Wir werden gewahr werden dass er vollkommen ist. Er ist auf allen Ebenen von der grobstofflichen Atemfunktion bis zur feinsten energetischen Schwingung in jeder Zelle, in den Meridianen und Nadis, in den Chakras vollkommen. Er durchströmt uns, er durchwebt uns, wir sind letztlich selbst zum Atem geworden, denn in seiner feinsten Seinsweise ist er reines Bewusstsein, ist er das Licht in uns, ist er die Liebe, ist er das Göttliche, ist er das Leben, das durch Tod und Geburt hindurch ewig fließt.

 

Wir können vom Atem her in Richtung Meditation schauen, dann ist der Atem unser Weg und wir haben ein Ziel vor Augen, das wir aber nur erreichen, wenn wir es wieder fallen lassen. – Oder wir können in Meditation unseren Atem betrachten. Dann ist er kein Weg mehr, dann ist er nicht mehr unvollkommen, dann ist er Bewusstheit, dann ist er unser Sein und wir sind zurückgekehrt in die Ungetrenntheit. Ein Buddha atmet wie ein kleines Kind. Jeder Atemzug ist ein Lächeln. Jeder Atemzug ist ein Gebet.

 

Atem und Leben, Atem und Energie, Atem und Bewusstsein, Atem und Meditation bedeutet in allen Fällen dasselbe Phänomen, dasselbe Wunder, das wir erleben dürfen, wenn wir uns in die eigene innere Unendlichkeit vorwagen. Was den Menschen ausmacht, ist nicht das Stoffliche, sondern der Atem des Lebens, der gestalten will. Wie das Wasser an winterlichen Fensterscheiben rankende Blumen erzeugt, so erzeugt der Weltenatem Wesen im kühlen, gottesfernen All. Der Keim des Menschen ist der Atem, ist das Bewusstsein und zuletzt das Namenlose.

 

Es war bei einer Fahrt im Auto. Es regnete. Die Scheibenwischer bewegten sich hin und her und klärten den Blick auf die Straße. Und ich dachte, so müssen auch wir immer wieder den Blick klären auf unserem inneren Weg, den wir gehen. Wir haben zwar alte Schriften, alte Landkarten, die wir benutzen können. Doch kennen sie die Wege von heute? Die Zeiten und Kulturen ändern sich und mit ihnen auch die Landschaft und die Straßenverläufe. Wir sind stets in unserer eigenen Verantwortung. Schriften können nicht mehr als grobe Hinweise sein. Die Feinjustierung findet aber in unserem Bewusstsein statt. Und so kann es sein, dass wir die alten Texte für uns neu verfassen müssen.

 

Die folgende Geschichte entstammt der berühmten Brihadaranyaka Upanishad. Wer sich die Mühe macht und nachschaut, wird darin eine andere Version der Geschichte vorfinden. Sehen wir uns aber diese an, die ich bevorzuge, weil sie eine Frage aufwirft, die sich auf dem Weg der gewohnten Logik nicht beantworten lässt. Eine neue heilige Zeit bricht gerade an, für neue heilige Geschichten.

 

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Die Geschichte von Gargi 

 

Vor fünftausend Jahren, in den Kindheitstagen der Menschheit, zu jener Zeit, als die Upanischaden geschrieben wurden, rief König Janaka, Herrscher von Videha, alljährlich sämtliche Weisen zu einem Wettstreit zusammen. Er selbst war ein philosophisch interessierter Mann. Natürlich wäre kein Erleuchteter zu diesen Streitgesprächen gekommen, denn sie waren kindisch, auch wenn es eine hohe Belohnung gab. So geschah es einmal, dass der Herrscher ankündigte, er würde demjenigen, der als Sieger aus dem Wettstreit hervorging, tausend Rinder mit vergoldeten, diamantenbesetzten Hörnern geben.

 

Yajnavalkya war einer der berühmtesten und gelehrtesten Männern jener Tage. Er war sich seines Sieges völlig gewiss, und als er auf dem Gelände, wo die Debatte stattfinden sollte, eintraf, sah er die Rinder – und die eintausend Rinder mit ihren vergoldeten, diamantenbesetzten Hörnern waren im Sonnenlicht ein wahrhaft großartiger Anblick. Er sagte zu seinen Schülern: „Bringt die Rinder in unser Lager, damit die armen Tiere nicht so lange unnötig in der heißen Sonne stehen müssen.“

 

Die Schüler sagten: „Aber du musst sie doch erst gewinnen!“ Und er sagte: „Dafür sorge ich schon.“ Auch der Herrscher konnte ihn nicht abhalten. Und all die weisen Männer, die sich zu Tausenden versammelt hatten, sie alle konnten ihn nicht abhalten. Sie wussten, es war unmöglich ihn im Streitgespräch zu besiegen. Also führten seine Schüler die Rinder fort.

 

Doch kurz bevor er zum Sieger erklärt werden sollte, trat eine Frau namens Gargi vor, sie hatte auf ihren Ehemann gewartet, der ebenfalls bei der Debatte war. Und es wurde schon spät, darum ging sie ihn holen. Als sie das Gelände betrat, wurde sie der ganzen Szene gewahr, und sie sah, dass man die Rinder schon vor dem Sieg weggeführt hatte.

 

Sie sagte zum Herrscher: „Erkläre noch nicht seinen Sieg.“ Und zu Yajnavalkya gewandt sagte sie: „Mit diesen Philosophen hattest du ein leichtes Spiel. Aber lass mich, eine Frau, dir eine einfache Frage stellen. Wenn du sie beantworten kannst, behalte die Rinder, die du zu unrecht schon so früh in dein Lager geführt hast. Wenn du sie nicht beantworten kannst, musst du sie mir bringen lassen.“ Yajnavalkya war kurz irritiert, aber dann sagte er mit herablassendem Ton zu Gargi: „Stelle mir deine Frage, aber mache es kurz, ich habe heute noch einen weiten Weg mit den Rindern vor mir.“

 

Gargi, die sich nicht beeindrucken ließ, fragte Yajnavalkya, dem sie direkt in die Augen schaute: „Sage mir, ist alles, was existiert, erschaffen?“ „Ist das deine Frage“, lachte er, „ja gewiss, alles ist von Gott erschaffen! Und jetzt lass mich in Ruhe mit solchen albernen Fragen, die dir jedes Kind beantworten kann.“ „Langsam“, sagte Gargi, „ich bin noch nicht fertig. Jetzt bist du nämlich in Schwierigkeiten. Wer erschuf Gott? Denn er existiert genauso, und alles was existiert braucht einen Erschaffer.“ Yajnavalkya erkannte, dass es problematisch wird. Denn wenn er sagt, ein anderer Gott hat ihn erschaffen, wird die Frage von neuem beginnen – wer erschuf den anderen Gott? Du kannst es tausendmal beantworten, doch die Frage wird dieselbe bleiben: Wer erschuf den ersten Gott? Und wenn da jemand ist, der ihn erschuf, kann er sich nicht als den ersten bezeichnen.

 

Yajnavalkya wurde so ärgerlich, dass er sein Schwert zog und sagte: „Frau, wenn du nicht aufhörst, wird gleich dein Kopf zu Boden fallen!“ Aber Gargi sagte: „Tue dein Schwert zurück in die Scheide. Schwerter sind keine Argumente.“ Und sie sagte zum Herrscher: „Sage diesem Mann, dass er die eintausend Rinder zurückbringen muss.“ Es war so beschämend für Yajnavalkya, dass er später niemals mehr an einer Diskussion teilnahm. Und Gargi bekam alle eintausend Rinder. Sie ist die erste bekannte erleuchtete Frau in der Geschichte.

 

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Yajnavalkya ist ein Philosoph. Deshalb kann er nur in der Kategorie ‚Fragen und Antworten’ denken. Jede Frage kann beantwortet werden, wenn man nur entsprechend tief nachsinnt. Diesen Glauben zerstört Gargi in ihm und will ihm damit den Weg in sein innerstes Sein öffnen, wo weder Fragen noch Antworten einen Sinn ergeben. Doch Yajnavalkya versteht es nicht. Er wird fast gewalttätig und entblößt damit die ganze Schwäche seines Philosophierens. Die dünne Haut einer zusammengeraubten Weisheit bricht auf und zeigt die eiternde Wunde der Dummheit. Hätte er meditiert statt zu philosophieren, würde er Gargi verstehen, wäre er gar nicht erst in einen Disput mit ihr eingetreten.

 

Er zieht das Schwert gegen Gargi, damit ist gemeint, er versucht sich mit scharfem Denken aus der Schlinge zu ziehen. Aber Gargi sagt: Dein scharfes Denken nutzt dir nichts, es bringt dich nicht weiter, du bleibst damit auf der Stelle. Sie sagt: Argumentieren ist nicht Meditieren, du tust nichts weiter, als an der Oberfläche paddeln, springe aus deinem Boot und tauche ins Meer, vorher ist unser Austausch fruchtlos. Gehe aus dem Kopf mitten hinein ins Existenzielle, fordert sie ihn auf. Nicht mal deinen geraubten Besitz kannst du zusammenhalten, alles Gold und alle Kühe entschwinden dir, weil dein Verstand nie an die Heiligkeit und an das Bewusstsein gerührt hat. Der Philosoph erlebt die Trennung zwischen dem der denkt und den Gedanken, zwischen dem der atmet und dem großen Atem. Der Meditierende hat am Ende keine Fragen mehr und kein Interesse an unsinnigen Antworten. Der Meditierende ist selbst die Antwort. Sein Hiersein ist das Lachen des ewig wehenden Atems.

 

© 2017 Bhajan Noam

 

Seiten des Lebens: www.bhjan-noam.com

 

 

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