Unwirklich - Ich bin gar nicht da...

6. Therapiesitzung

19. August 2010, 9 Uhr

Zu viele Stimmen drin in meinem Kopf. Die Welt ist ein Wattebausch im Nebel. Ganz fern, weit weg von mir. Was spüre ich – außer Dumpfheit?

Sarah ist mit dem Weckerklingeln aufgestanden, sie tappt ins Bad, zieht sich ihr türkis farbenes Nachthemd aus, betrachtet kurz ihren blassen, schlanken Körper im Badezimmerspiegel und stellt die Dusche auf „Hot“. Erst kaltes Wasser, dann lau, bis warm und endlich heiß. Wenn es erst heiß ist, legt sie den Hebel wieder um auf lauwarm. Ist so eine Angewohnheit von ihr. Das Wasser lässt sie auf sich herab prasseln, erst wärmlich, später kalt – eiskalt. In der Hoffnung, etwas zu spüren. Wach zu werden aus diesem Delirium.

Abtrocknen, Kaffee kochen, trinken, Computer hochfahren – alles läuft wie automatisiert. Ohne Nachdenken. Der Kater miaut und bekommt sein Frühstück. Ente und Huhn im Beutel – ohne Konservierungsstoffe.

8.20 Uhr – Zeit, dass Sarah sich allmählich beeilt. Haare fönen, Zähne putzen, eincremen und die Augenringe wegschminken. Ein wenig Maskara – das muss genügen für ihren Therapeuten.

Es ist tatsächlich etwas frisch auf dem Fahrrad. Und windig. Schon fast zu herbstlich für Mitte August. Sarah nimmt nur den Wind wahr, aber nicht die Autos, die an ihr vorbei rauschen oder an den Ampeln anhalten. Menschen, die ihr auf dem Weg begegnen, scheinen unsichtbar. Nicht real.

Wie von alleine radelt sie den richtigen Weg. „Ich hab heute nur ein Ziel“, sagt sie sich…Steuert auf den Hof voller Kieselsteine zu, schließt ihr Fahrrad ab und hat sich allmählich an den Blick dieses idyllischen Efeu bewachsenen Landhauses gewöhnt. "Ich gehe zu meinem Therapeuten", sagt sie sich in Gedanken, als müsse sie sich selbst erklären, was sie gerade tut. Stern öffnet ihr die Tür – früher als gewohnt. Wenn sie zu früh da ist, dauert es immer ein paar Minuten und sie wartet geduldig. Heute ist sie knapper dran als sonst.

Das übliche Prozedere: Ein gegenseitiges „Guten Morgen!“ Ich trete ein, er weist auf seinen großen Therapieraum. „Nehmen Sie schon mal Platz“, sagt er. „Ich komme gleich!“ Der schwarze Sessel rechts in für mich. Eine tiefe Sitzkuhle hat jemand darin hinterlassen und ich frage mich, wie viel hierin schon geschwitzt und geweint wurde. Der Therapeutensessel hat eine ähnlich tiefe Kuhle. Also alles nichts Besonderes.

Ich lasse mich in den Sessel fallen und schaue mich um und hinaus aus dem Fenster. Der Wind wiegt die Äste hin und her. Ein bisschen sonnig, ein bisschen wolkig. Und ich frage mich, was dahinter steckt. Bekommen das Therapeuten beigebracht, dass sie ihre Klienten erst einmal ankommen lassen? Ein paar Minuten für sich sind und sich sammeln können, damit sie realisieren, dass gleich ihre Sitzung beginnt? Das Gehirn arbeitet ja weiter: Was sage ich gleich?

„Willkommen!“, Stern tritt ein, er hat sich eine Strickjacke über gezogen. Ist wohl tatsächlich kühl geworden. Er nimmt Platz und fängt direkt zu reden an. Darüber bin ich sehr froh, denn mein Kopf ist wie wattiert und leer. „Ich habe gerade den Antrag für die Krankenkasse fertig gemacht“, erklärt Stern. Den soll ich nachher unterschreiben und er wird mir unseren Therapievertrag vorlegen. „Darin geht es um ein paar Regeln“, sagt er, „wie ich mich verhalte als ihr Therapeut und was ihre Aufgaben als Co-Therapeutin sind.“ Nur Formelles, um einen klaren Strich zu ziehen. Später… Den Konsiliarbericht vom Hausarzt habe ich dabei. Viel steht nicht drauf. Nur Körpergröße, Gewicht – 55,8 Kilo bei 1,68 Meter - Blutdruck 80-130 und Ruhepuls bei 65. In krakeliger Schrift hat Hülsmann vermerkt, dass „Die Patientin in depressiver Stimmungslage steckt und psychosomatische Belastungsstörungen aufweist.“ Neben der medikamentösen Behandlung sieht er eine Psychotherapie für angebracht.

Stern wartet kurz ab, fragt: „Was möchten Sie heute bearbeiten?“ Ich bin froh, dass er schnell fragt und nicht erst lange guckt und eine Reaktion von mir erwartet. Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht so genau, was ich heute mitbringe. „Ich fühle mich in den letzten Tagen so unwirklich. Die Welt ist so weit weg von mir“, besser ich bleibe bei der Wahrheit und beschreibe das, was ich gerade erlebe oder nicht erlebe…. Ich brauche jetzt keine Situation der letzten Tage herbei fantasieren. Ich habe nichts erlebt. Nur dumpfes Delirium. „Ich fühle mich so unwirklich, alles ist so weit weg. Als wäre ich gar nicht da. Dinge, die ich vielleicht für Morgen geplant habe, erscheinen mir, als kämen sie erst in weiter Ferne“, jetzt sprudelt das alles aus mir heraus. Natürlich lebe ich, ich atme ein und aus, alle Körperfunktionen sind intakt. Aber was spüre ich? Nichts! Es gibt mich eigentlich gar nicht. „Kennen Sie dieses Gefühl? War das schon mal da?“, fragt Stern nach. Ich muss länger überlegen. Ja, ich kenne das… Ich glaub, so was mach ich öfter. Aber wann? „Wie lange sind Sie jetzt in diesem Zustand?“ Stern scheint interessiert und hellhörig zu werden. „Seit 3,4, 5 Tagen…?!“, antworte ich. „Und was ist vorher passiert?“, versucht er mir auf die Sprünge zu helfen. „Oh je, welcher Tag ist heute? Donnerstag. Was war vor ein paar Tagen?“, ich krame in meinem Gedächtnis und versuche mir einen Weg zu schlengeln durch meine nebulösen Nerven, Synapsen und alle Hirnareale. Ja, das müsste es sein… Mein Besuch bei Hülsmann… Wann war das genau? Ich scheine jedes Zeitgefühl verloren zu haben. „Ich war bei meinem Hausarzt und er hat mich weiter krank geschrieben. Das war gar nicht meine Absicht“, erzähle ich ihm. Wegen des Konsiliarberichtes war ich beim Arzt. Jetzt habe ich nicht wie vorgesehen Urlaub, sondern bin immer noch krank. „Mein Mann hat darauf ganz komisch reagiert – geradezu böse!“, sag ich. Das möchte mein Therapeut natürlich näher erläutert haben. „Sascha hat die Nachricht ganz entnervt aufgenommen. Und ich fühle mich mal wieder vollkommen unverstanden von ihm“, sage ich. „Und seitdem versuche ich wieder völlig normal zu funktionieren. Damit ich wie die ,ganz normale Frau an seiner Seite’ wirke.“

„Wie ist denn die ganz normale Frau an seiner Seite?“, möchte Stern wissen. „Naja, ich rede ganz normal mit ihm, ich erfülle alle meine häuslichen Pflichten, ich lasse die Wohnung also nicht verlottern. Der Tag geht seinen Gang. Nur das Ausgehen ist ein Problem. Sascha trifft gerne viele Leute und feiert. Ich habe das auch immer gern gemacht, aber seit einiger Zeit kann ich das nicht mehr, ich will das nicht, es macht mir Angst!“ „Und sexuell?“, hakt Stern ein. „Nichts. Ich habe keine Lust mehr!“ Ich habe schon geahnt, dass die Frage kommt, als ich von den häuslichen Pflichten sprach… Aber das war’s auch schon. Mehr Details zu unserem Sexualleben gibt’s derzeit sowieso nicht. Und Stern möchte zu unserem Ausgangsthema zurück kehren.

„Welche Funktion könnte die „unwirkliche Welt“ für Sie haben? Steckt da vielleicht ein Schutzmechanismus drin?“ Könnte sein, dass Stern recht hat… Aber wovor schütze ich mich dabei? Und das in meiner eigenen Wohnung? „Ich weiß nicht….“, sage ich kleinlaut, denn ich merke, dass sich etwas rührt in mir. „Ich kann’s nicht erklären“, sage ich, „aber in mir steigen dabei Tränen auf.“ Es nützt nichts, ich muss ihm von dem Bild erzählen, das ich jetzt gerade und an manchen Tagen vor Augen habe. „Darin sehe ich mich als Kind. Mit dem Rücken zu mir. Alle Wände, Teppiche, der ganze Raum ist weiß, farblos, irgendwie auch neblig. Ich sitze dort als Kind auf dem Boden und spiele mit irgendwas Durchsichtigem. Als Kind war ich halt viel alleine und ich glaube“, jetzt steigen mir erst recht die Tränen in die Augen und eine Stimme wird brüchig, „dass ich das damals schon gemacht habe: Ich habe mich weggeswitcht, um das Alleinsein ertragen zu können. Früher als Kind war ich traurig. Heute“, vermute ich laut, „hat sich daraus etwas Anderes entwickelt. Heute möchte ich sogar allein sein.“ „Das klingt, als wäre das für Sie nicht ok“, meint Stern. „Nein, irgendetwas daran ist eigenartig“, finde ich. Denn ich bin am liebsten allein. Ich bin froh, wenn Sascha weg ist. Und er ist eigentlich viel weg. Noch nicht genug. Manchmal bereue ich sogar, dass wir zusammen gezogen sind. „In mir drin“, sage ich, „sind zwei widerstreitende Kräfte, die gegeneinander duellieren. Einerseits möchte ich mit Sascha zusammen sein wollen, ich möchte Zweisamkeit genießen, Dinge tun, die man nur zu Zweit macht, Sehnsucht nach dem anderen spüren. Stattdessen bin ich froh, wenn er weg ist….Irgendwas ist doch Falsch daran. Stern unterstreicht das, was ich sage, mit seiner Gestik und ballt beide Hände zu Fäusten, die gegeneinander reiben. Diese zwei Pole in mir sprechen zwei verschiedene Sprachen. „für welche der beiden Stimmen würden Sie sich entscheiden?“, fragt er. Die Antwort fällt mir nicht leicht. „Aber ich tief in mich hinein höre, dann würde ich das Alleinsein immer vorziehen. Denn in der Zweisamkeit, das weiß ich auch so, „da messe ich mich mit anderen, die ihre Beziehung schön finden, die ihre Zeit gerne mit ihrem Partner teilen.“ Vielleicht ist die Zweitstimme in mir nur eine gesellschaftliche Vorgabe, um gewissen Anforderungen oder Erwartungen gerecht zu werden? „Beide Stimmen fühlen sich in Ordnung an“, meint Stern. „Das ist schön“, sage ich, „ich glaube, mein Mann sieht das anders!“ „Ich spreche nicht mit Ihnen“, grinst er, „ich appelliere auch diejenige in Ihnen, die daran zweifelt, dass der Wunsch nach Alleinsein ok ist….“

Stern möchte für heute einen Schnitt machen und sagt: „Ich möchte Ihnen gerne noch ein paar Fragebögen mitgeben und etwas zur Diagnostik, was wir aber nächste Woche zusammen erarbeiten. Darin wird es um etwas Ähnliches gehen, was Sie heute beschrieben haben…“ Das Wegbeamen, Wegswitchen, Nebel, fernab von dieser Welt, das Gefühl nicht real zu sein, alles ist so unwirklich….

„Hat das jeder so?“, fragt Sascha ungläubig. Als ich wieder zu Hause ankomme, will er wissen, wie es gewesen ist. Ich erinnere mich daran, was Martina vor ein paar Tagen sagte: Manche wollen nicht über ihre Therapiesitzungen reden, wollen ihren Partner völlig außen vor lassen. Ich habe Sascha sogar alle meine Unterlagen und ausgefüllten Fragebögen mitgegeben, damit er sie im Büro für mich kopiert. Und ich habe noch gesagt, er könne es ruhig alles lesen… Er hat es nicht getan… An seiner Stelle wäre ich hyperneugierig gewesen! Ich kann mir nicht erklären, warum er nicht hinein geschaut hat. Oder hat er und sagt es nicht? Die Art und Weise, wie er jetzt fragt, zeigt aber, dass er wirklich nichts gelesen hat. „Nein, so ein unwirkliches Gefühl kenne ich nicht“, und schaut wieder auf den Bildschirm, gibt einen weiteren Befehl in seinem Online-Poker. Sascha ist gar kein oberflächlicher Typ. Aber ich glaube, das hier ist ihm alles zu viel. „Ist das so, wenn du dich einigelst, keine Lust zu irgendwas hast?“ Es hat zwar damit zu tun, aber das sind bewusste Entscheidungen – nicht vor die Tür zu gehen. Wenn ich die Welt und mich nicht mehr wahrnehme, passiert das einfach so… Ich kann es nicht steuern!

„Schlimm, wenn ich jetzt ne Runde mit dem Motorrad fahre?“, was eine Frage,…. Vielleicht spürt er es, dass er mich allein lassen soll? Wir gehen uns aus dem Weg….

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Kommentare

  • Alles wird gut. Du bist auf dem Weg.
    Deine Marina
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