Tango im Altersheim

Der Tangomeister war immer noch mit der neuen Tangofrau zusammen. Schon über drei Monate. Das artet bereits in eine dauerhafte Beziehung aus. Die Beiden harmonieren bereits sehr gut zusammen. Eine Schwingung von Sex liegt in Luft, wenn sie zusammen tanzen. Sie spielt das kleine unschuldige Mädchen, dass sich gerne von einem starken Macho verführen läßt. Schmachtend hängt sie an seinen Lippen. Zärtlich schmiegt sie sich an ihn. Verspielt sind ihre Tanzbewegungen.

Und er ist der starke Hengst, der stolze Spanier, der Torero. Er liebt es im Mittelpunkt zu stehen, bewundert zu werden, der Held aller Frauen zu sein. Und ich? Eigentlich bin ich doch der Held. Ich spüre, wie ich mit ihm um die Führung der Urhorde kämpfen möchte. Ich reiße mich zusammen. Ich bin doch ein spiritueller Mensch. Ich stehe doch über allen weltlichen Dingen. Also überlasse ich ihm gnädig die Führungsrolle.

Allerdings zieht mich die Tangofrau magisch an. Ich wage es mit ihr zu tanzen. Ich bitte sie um einen Tanz. Ich möchte gerne wissen, warum sie mich immer ignoriert und übersieht. Und ich möchte sie gerne auch einmal in meinen Armen halten, sie spüren, mich an meine wilde Jugend erinnern. Da war doch noch etwas?

Leider bin ich ein ziemlich schüchterner Mensch. Das merkt sie sofort. Sie fordert mich auf ein starker Torero zu sein und sie zu (ver-) führen. Zwar bin ich vom Sternbild her ein Stier. In mir steckt auch durchaus ein Macho. Da muss man aber ziemlich tief graben, damit er zum Vorschein kommt. Ich brauche Sicherheit, um mein wahres Wesen zu entfalten. Die habe ich beim Tangotanzen nicht. Ich kann nicht Tango tanzen. Und mit der Tango-Musik kann ich auch nicht viel anfangen. Ich frage mich immer wo der Takt ist. Ich bin Disko gewöhnt. Da ist der Takt klar und deutlich. Tango ist Geige, sanft und zärtlich.

Da sie so schnell nicht den wilden Stier in mir erwecken kann, übernimmt sie die Führung. Sie ist die Tangoexpertin und ich ihr gehorsamer Schüler. Mal führt sich mich und mal läßt sie mich führen. Sie spielt mit meinem Körper, probiert verschiedene Schritte aus, bewegt sich auch mal gegen den Takt, um mich zu verwirren. Ihre Sexenergien hält sie zurück. Das ist auch gut so, sonst wird der Tangomann noch eifersüchtig.

Sie erklärt mir, dass sie gedacht hätte, ich würde nicht tanzen. Sie meinte, ich würde lieber immer nur dasitzen und zuschauen. Deshalb hätte sie mich bisher nicht zum Tanzen aufgefordert. Das war also des Rätsels Lösung. Wir unterhalten uns etwas. Sie erzählt mir, dass sie schon sehr lange Tango tanzt. Ich berichte ihr, dass ich früher einmal Rechtsanwalt war und dann ein Yogalehrer geworden bin. Ich berichte ihr von meiner Luxusvilla im Wald. Das interessiert sie. Langsam werden wir vertrauter. Viel zu schnell geht der Tanz zuende.

Aber ich musste mich ja auch noch um meine Mutter kümmern, die etwas gelangweilt in ihrem Rollstuhl zwischen den anderen alten Frauen und Männern saß. Es gab heute erstaunlich viele Männer in der Runde. Und da war auch wieder der Schlurfer. Ein kleiner Mann, der begeistert viele alte Frauen zum Tanz aufforderte. Leider konnte er kaum noch gehen. Zweimal fiel er beinahe um. Es kostete Nerven ihm zuzusehen, wie er quer über die ganze Tanzfläche zu der von ihm auserkorenen Frau humpelte. Es ist nicht ganz ungefährlich im Alter zu fallen, weil die Knochen leicht brechen können.

Das Highlight des heutigen Abends war ein kleiner Hund, den eine ältere Besucherin mitgebracht hatte. Alle alten Damen verliebten sich an das süße Hundchen. Die Tangofrau tanzte mit ihm und der Tangomann wurde ganz eifersüchtig. Das meinte er jedenfalls scherzhaft.

Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und beobachtete die alten Menschen. Mir fiel auf wie schnell sich die Zusammensetzung ändern. Heute waren viele neue Senioren beim Tanzen. Fast ein Drittel der vertrauten Gesichter fehlte. Im Altersheim ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die alten Menschen kommen. Meistens werden sie von ihren Angehörigen gebracht. Sind eine kurze Zeit da und sterben. Eine alte Freundin meiner Mutter war plötzlich nicht mehr da. Im Gang las ich ihre Todesanzeige. Meine alte Freundin Frau Trotzki, die geistig so wach war und mit der ich mich gerne unterhielt, war vor zwei Monaten gestürzt, hatte sich eine Hand gebrochen und lag im Krankenhaus. Heute traf ich sie das erste Mal wieder. Sie erzählte mir traurig, dass es ihr nicht gut geht. Sie konnte nicht mehr laufen, saß jetzt im Rollstuhl und war in der kurzen Zeit um Jahre gealtert.

Meiner Mutter dagegen geht es gut. Das sagt sie immer auf Nachfrage. Und sie hat auch glückliche Umstände im Moment im Altersheim. Sie hat eine sehr nette Bettnachbarin, die sie rührend umsorgt. Sie hat eine sehr liebevolle junge Altenpflegerin. Wenn da nur nicht ihr Husten wäre, der mir etwas Sorgen bereitet. Seit einiger Zeit hustet sie oft und ziemlich lange. So ein chronischer Husten kann leicht zu einer Lungenentzündung werden, woran man sterben kann. Die Altenpflegerin will am Montag mit der Ärztin darüber sprechen. Natürlich wird meine Mutter irgendwann sterben, aber es sollte nicht gerade jetzt sein, wo es ihr relativ gut geht. Aber das Schicksal hat seine eigenen Pläne. Die kann man nur annehmen und akzeptieren.

Zu berichten ist noch von der Hilfsaltenpflegerin, die mich vor zwei Wochen beim Singen verjagt hat. Das hat sie inzwischen vergessen. Sie scherzte heute mit mir, als ob wir alte Freunde wären. Ich überlegte sogar, ob ich mit ihr tanzen sollte. Zum Glück kam mir der Tangomann zuvor. Daraufhin tanzte ich mit der Tangofrau. Und die Geschichte habe ich ja schon erzählt.

Ich fuhr sehr nachdenklich in den Yogiwald zurück. Was ist der Sinn des Lebens? Im Altersheim beobachte ich den schnellen Wechsel von Leben und Tod. Es gibt dort viel Leid. Eine kranke alte Frau in einem Rollstuhl weinte beständig vor sich hin: "Womit habe ich mein Schicksal verdient?" Meine Mutter und einige andere Senioren sind gut drauf und genießen das Leben. Tango mortale.

Ich beobachtete das Leben im Altersheim und wurde plötzlich zum Beobachter. Ich gelangte auf eine höhere Bewusstseinsebene, in die Einheit. Da wurde mir klar: Das Leben ist wie ein Film. Er wird eingeschaltet, es gibt eine Handlung, mal Freude und mal Leid, und dann wird der Film ausgeschaltet. Man selbst ist die Leinwand und nicht der Lebensfilm. Es kommt darauf an, dass die Leinwand in einer guten Energie, spirituell gereinigt, im Glück, erleuchtet ist. Dann leuchtet das Leben, egal ob es gerade schön oder weniger schön ist. Es kommt darauf an einfach positiv im Fluss mit den Dingen zu sein und seinen inneren Frieden zu bewahren. Und in der Liebe und aus der Liebe heraus zu leben.

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