Die Erfahrung des Wachzustandes ist Wahrnehmung. Die Erfahrung des Traumes ist Erinnerung. Da die Wahrnehmung vor der Erinnerung kommt, kommt Wachen vor Träumen. Während die Erfahrung des Wachzustandes von der Traumerfahrung und ihren Ergebnissen unabhängig ist, ist die Traumerfahrung ein Ergebnis der Eindrücke des Wach­zustandes.

Es gibt eine Art Ordnung und System in den Erfahrungen des Wachzustandes, jedenfalls mehr als im Traum. Jeden Tag werden dieselben Menschen und Dinge Gegenstand der Erfah­rung im Wachzustand. Es gibt ein zusammenhängendes Erinnern an Erfahrungen vorhergehender Tage und eine Kontinuität der Persönlichkeit in der Erfahrung des Wachzustandes. Das Bewusstsein dieser Kontinuität, Regelmäßigkeit und Einheit fehlen im Traum.

Der Traum ist ungeordnet, während das Wachen relativ systematisch ist.

Der Traum ist weniger real als der Wachzustand insofern, als der direkte Kontakt mit der Außenwelt fehlt. Obwohl auch im Traum eine Außenwelt geschaffen wird, ist sie von geringerer „Realität“ als die Welt des Wachzustandes.

Raum, Zeit, Bewegung und Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt sind dem Traum und dem Wachzustand gemeinsam, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Auch der Grad der „Wirklichkeit“ zum Zeitpunkt ihrer Erfahrung ist ähnlich. Das heißt, für den Träumenden ist die Traumwelt im Moment des Traums Wirklichkeit. Ebenso ist für den Menschen im normalen Alltagsbewusstsein die Wachwelt wirklich. Aber der Unterschied liegt im Grad der Wirklichkeit, die durch sie ausgedrückt wird. Der Jiva fühlt, dass er sich im Wachzustand in einer höheren Ordnung der Wirklichkeit befindet als im Traumzustand.

Dass die Welt im Wachzustand eine relative Wirklichkeit besitzt, beweist nicht, dass sie im absoluten Sinn wirklich ist. Vom Standpunkt der höchsten Wirklichkeit aus ist auch die Wacherfahrung unwirklich. So wie der Traum im Wachzustand transzendiert wird, wird auch die Welt des Wachzustandes im Zustand der Selbstverwirklichung transzendiert.

Der Traum ist Scheinwirklichkeit. Wachen ist relative Wirklichkeit. Turiya oder Brahman ist absolute Wirklichkeit.

Wachen ist die Wirklichkeit hinter dem Traum. Turiya (Überbewusstsein) ist die Wirklichkeit hinter dem Wachzustand.

Vom Standpunkt von Turiya aus gesehen, sind sowohl Wachen als auch Träumen un­wirklich. Wenn man aber den Wachzustand mit der Traumerfahrung vergleicht, hat er eine größere Wirklichkeit als der Traum. Bis zu einem gewissen Grad verhält sich Turiya zum Wachzustand wie Wachen zum Traumzustand.

Der Traum ist für den Träumenden kein Traum, sondern im Moment des Träumens ist er für ihn Wirklichkeit. Nur der Erwachte erkennt den Traum als Traum. Genauso ist Wachen für den, der noch im Wachzustand ist, real. Nur für jemanden, der in Turiya ist, hat der Wachzustand keine Realität. Wachen ist Dirgha-Svapna, ein langer Traum, im Unterschied zum normalen Traum, der kurz ist.

Es gibt Grade der Wirklichkeit in den Erfahrungen des Einzelnen. Die drei Haupt-Abstufungen sind subjektiv, objektiv und absolut. Die Verwirklichung von Atman oder Brahman ist Erfahrung der absoluten Wirklichkeit. Das Individuum ist das subjektive Wesen im Vergleich zur objektiven Welt. Das Subjekt und das Objekt haben dieselbe Wirklichkeit, obwohl sie beide im Absoluten verneint, d.h., transzendiert, werden.

Aus dem Buch:

Swami Sivanandas
Inspiration und Weisheit
Für Menschen von Heute


Auszüge aus Werken von Swami Sivananda
Essays und praktische Anleitungen
für spirituelle Aspiranten

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yoga-vidya.de/yoga-buch/sivananda

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