Der traurige Erleuchtete
Vor achthundert Jahren lebte in Tibet der erleuchtete Meister Langri Thangpa. Er folgte der Kadampa-Tradition von Atisha und versuchte Liebe und Mitgefühl zu allen Wesen zu entwickeln. Er konzentrierte sich auf das Leid auf der Welt und war dadurch ständig traurig. Obwohl in ihm auch gleichzeitig das Glück der Erleuchtung war. Er lebte in einer Mischung aus Trauer, Liebe und Glück.
Die anderen Lamas sprachen zu ihm: „Warum nimmst du das alles so ernst? Die materielle Welt ist doch nur ein Traum, den man durch die Erleuchtung übersteigt. Alles kommt und geht. Ein Erleuchteter sollte an nichts anhaften und sich über die Dinge auf der Welt erheben.“ Der traurige Langri antwortete: „Wie könnte mich das Leid auf der Welt unberührt lassen, wo ich doch eins mit allem bin. Ich habe versprochen als Bodhisattva zu leben, und allen Wesen zu helfen. Wer anderen Wesen helfen will, muss zuerst ihr Leid sehen und ernst nehmen. Vielleicht ist das Leid aus der Sicht eines Erleuchteten nicht real, aber die vielen Wesen auf der Welt leiden aus ihrer Sicht real.“
Durch seine Übung der Identifikation mit allen Wesen, genannt Tonglen, wuchs Langri Thangpa zwar immer mehr in der Erleuchtung und in der Liebe, gleichzeitig wurde er aber immer trauriger. Jeden Tag übte er es das Leid seiner leidenden Mitwesen zu übernehmen und ihnen sein eigenes Glück zu geben. Schon das Leid einer kleinen Ameise konnte ihn in Tränen ausbrechen lassen. Man sah ihn nie lachen.
Eines Tages schlurfte er wieder traurig durch den Gang des Klosters. Die Mönche machten sich über ihn lustig und fragten: „Ist heute jemand gestorben?“ Langri antwortete: „Gibt es einen Tag, an dem nicht jemand gestorben ist. Jeden Tag gibt es irgendwo Leid auf der Welt. Wer das weiß, kann gar nicht anders als immer traurig zu sein.“ Die Mönche meinten, dass das eine sehr einseitige Sicht des Lebens sei. Im Leben gäbe es Freude und Leid. Man müsse auch mal über sich selbst und über das Leben lachen können. Das könne man, wenn man sich und seinen Weg nicht zu ernst nehme.
Das leuchtete Langri Thangpa ein. Er erkannte, dass er sich zu sehr mit dem Leiden der Welt identifizierte. Also ließ er sich und seinen Weg des Mitgefühls auch etwas los. Dadurch entwickelte sich mehr Glück in ihm. Er lebte mehr im Licht. Und eines Tages musste er sogar herzhaft lachen, als er sah, wie eine Ameise ein Stück von seinem Käse rauben wollte. Das Stück Käse war so groß, dass sie sich dabei übernahm. Sie wollte mehr als sie tragen konnte und konnte den Käse nicht wegschaffen. Zum Glück war die Ameise schlau, holte ein paar Kollegen. Und gemeinsam schafften sie das große Käsestück fort. Da waren die Ameisen glücklich. Und der traurige Langri gelangte in die Energie der Mitfreude und konnte sich endlich von seiner übergroßen Trauer befreien. (Frei nacherzählt aus Tibetische Weisheitsgeschichten)
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