Es ist Sommer. Die Alten sitzen überall verteilt entweder in der Sonne oder im Schatten. Ich suche sie dort auf, wo sie sind. Das ist heute meine Strategie. Sie kennen mich schon. Wo ich erscheine, heißt es: "Der Musiker kommt." Das empfinde ich als eine Ehre. Im Kirchenchor durfte ich als Kind nicht Weihnachten mitsingen, damit ich das schöne Weihnachtsfest nicht zerstöre. In der Schule bekam ich eine gute Note als Belohnung dafür, dass ich nicht im Chor mitsinge. Aber im Altersheim werde ich geliebt. Hier zählen nicht die guten Töne, sondern das gute Herz. Ich bin ein Yogi. Ich verbreite durch meine Musik gute Energie. Ich baue die Alten energetisch auf. Das spüren sie. In der Schule zählte die äußere Form. Hier zählt die innere Essenz.
Bei meinem erlaubten Singplatz im Gang sitzen heute keine Leute. Die Tür ist wegen der Hitze weit auf und es herrscht Durchzug. Vor der Zugluft flüchten die Senioren. Sie sitzen auf dem Platz vor dem Vogelkäfig. Hier darf ich eigentlich nicht singen. Aber als 68iger habe ich gelernt: "Legal, illegal, scheißegal." Man muss etwas riskieren, wenn man die Welt retten will. Wenn man die Menschen glücklich machen will. Eine alte Frau bittet mich mit ihnen zu singen. Nach und nach kommen immer mehr Seniorinnen hinzu. Und dann beginnt eine alte Frau zu meiner Musik zu tanzen.
Die Alten sind begeistert. Jetzt gibt es etwas für die Augen und die Ohren. Musik und Tanz zusammen. Eine zweite Frau tanzt mit. Die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt. Meine Mutter wacht aus ihrem dementen Gleichmut auf und beginnt zu lächeln. Die Alten sind glücklich. Und dann erscheint die böse Oberschwester. Sie rauscht durch die Gruppe hindurch. Ich spiele scheinbar fröhlich weiter, obwohl mich ihr Anblick erheblich stresst. Wird sie mich jetzt vertreiben? Sie sagt nichts. Vielleicht bemerkt sie das Glück der Seniorinnen und will es nicht zerstören. Vielleicht traut sie sich nicht sich mit mir direkt anzulegen, weil ich alle ihre Aktionen als Schriftsteller in die Öffentlichkeit bringe.
Mehrmals rauscht sie durch die Gruppe. Im Gefolge ihre Unterschwester, die auch so tut als bemerke sie mich nicht. Wir singen fröhlich weiter. Doch dann kommt eine andere Angestellte des Altersheimes und bittet mich mit dem Singen aufzuhören. Die Oberschwester hat sich vermutlich bei ihr über mich beschwert. Und sie ist eine Powerfrau, die gerne für Ordnung sorgt. Und Singen im Altersheim an diesem Platz ist nicht in Ordnung. Ich räume friedlich den Platz und schiebe meine Mutter in ihrem Rollstuhl in den Park. Ich bin zufrieden. Ich habe die Alten fast eine Stunde glücklich gemacht. Das genügt.
Im Park treffe ich auf eine große Gruppe von Senioren, die im Schatten auf den Bänken sitzen. Ich frage, ob ich für sie singen soll. Sie stimmen erfreut zu. Und so singen der Musiker und seine alte Mutter hier weiter. Nach jedem Lied frage ich, ob sie noch mehr Musik wollen. Man soll seine Fans ja auch nicht überfordern. Nach einigen Lieder ziehe ich weiter. Ich entdecke meine beiden treuesten Fans etwas abseits auf einer Bank. Und singe mit ihnen noch einige weitere Lieder. Bis ich eine gewisse Erschöpfung bei mir bemerke. Ich werde beim Singen unkonzentriert und die falschen Töne nehmen überproportional zu. Da weiß ich, dass es Zeit ist das Musizieren zu beenden und nach Hause zu fahren.
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