Die Patientenverfügung

Ich hatte zur Ukulele einige Weihnachtslieder geübt. "Leise rieselt der Schnee", "Es ist für uns eine Zeit angekommen" und "Hohe Tannen weisen die Sterne." Die sang ich auch meiner Mutter vor. Meine Mutter lag wie letztes Mal einfach nur da. Ich konzentrierte mich auf meine Mutter und sang die Lieder direkt für sie. Sie schien das zu mögen. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie mit meinem Gesang erreichte.

Meine Mutter wird jetzt künstlich ernährt. Das Füttern dauert zu lange. So viel Zeit haben die Altenpflegerinnen nicht. Ich hatte deshalb heute ein langes Gespräch mit der Altenpflegerin. Das Problem besteht darin, dass meine Mutter eine Patientenverfügung unterschrieben hat, wonach sie keine lebensverlängernden Maßnahmen will. Danach ist eine künstliche Ernährung eigentlich nicht zulässig, außer als kurzfristige Überbrückung im Krankheitsfall. Hier scheint sich aber eine Zwangsernährung anzubahnen, die Jahre dauern könnte.

Ich weiß nicht genau, wie ich mich verhalten soll. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass der Wille meiner Mutter zu akzeptieren ist. Ich sprach das Problem vorsichtig an. Die Altenpflegerin meinte, dass im Moment eine Zwischensituation vorliegt. Meine Mutter verweigert das Essen nicht. Dann wäre die Situation eindeutig. Sie hat auch noch keine Magensonde, sondern wird durch eine Infusion (in den Blutkreislauf) ernährt und insbesondere zusätzlich mit Flüssigkeit versorgt.

Aus meiner Sicht ist meine Mutter so lethargisch, dass sie alles mit sich machen läßt. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sie die Nahrung verweigert. Irgendwann sollte man deshalb die künstliche Ernährung einstellen und meine Mutter sterben lassen. Ich könnte meine Mutter sofort gehen lassen. Aber meine Schwester möchte Weihnachten noch zu Besuch kommen und sich von unserer Mutter verabschieden. Ich habe deshalb mit meiner Schwester vereinbart, dass die künstliche Ernährung noch bis Weihnachten aufrechterhalten wird. Das sagte ich auch der Altenpflegerin, die das Gespräch aufgeschrieben hat, damit sie rechtlich abgesichert ist.

Nach dem Singen hielt ich meiner Mutter längere Zeit die Hand. Ich versuchte ihren Willen zu ergründen. Wollte sie noch leben? Oder will sie gehen? Ich konnte keine eindeutige Entscheidung spüren. Meine Mutter leidet nicht. Sie liegt einfach nur so da. Sie ist bei Bewusstsein, aber sie hat kein Interesse mehr an dem was um sie geschieht. Im Moment fühlt es sich richtig an, die künstliche Ernährung noch nicht abzubrechen. Ich habe mit der Altenpflegerin deshalb vereinbart, erstmal die Situation zu beobachten. Aber das Altenheim ist auf die Patientenverfügung hingewiesen.

Etwas Trauer ist in mir. Ich bin auf den Tod eingestellt und sehe ihn als Geschenk für meine Mutter. Das Leben meiner Mutter nähert sich dem Ende. Das Ende ist in Sicht. Eine traurige Weihnachtszeit. Aber irgendwie auch eine Zeit der Wandlung.

Meine Schwester hat mit der behandelnden Ärztin gesprochen. Sie ist damit einverstanden, dass nach Weihnachten die Infusion abgesetzt wird. Sie weiß nicht, was dann passiert. Wir werden sehen. Ein Mann in einer Facebook-Gruppe hat geschrieben, dass seine Oma einige Stunden nach dem Absetzen der Infusion friedlich eingeschlafen ist.

Gott hat einen Plan für meine Mutter. Und der wird sich erfüllen. Meine Aufgabe ist sie zu begleiten und zu singen. Die Aussage der Hellseherin gibt mir viel Hoffnung. Alles wird gut, auch wenn es jetzt noch eine Zeit der Trauer und des Loslassens ist. Zum Glück bekomme ich von vielen Menschen liebevolle Unterstützung. Mir geht es gut. Ich bin friedlich und spüre das Licht Gottes in mir. Was will man mehr? Ich werde meine Mutter mit Weihnachtslieder in den Tod begleiten.

Es zeigt sich wie wichtig eine Patientenverfügung ist. Denkt rechtzeitig daran.

Der Bundesgerichtshofs (2010) : Auch der ("aktive" und gezielte) Behandlungsabbruch bleibt straflos (und ist gebotern), wenn er dem Willen des Patienten entspricht. Gibt es diesen feststellbaren Patientenwillen und sind sich Arzt und Betreuer einig, muss kein Betreuungsgericht eingeschaltet werden. Die Sterbephase muss nicht begonnen haben. So darf z. B. auch bei einem Koma, das sich möglicherweise noch Jahre hinzieht, die künstliche Ernährung eingestellt werden. Eine Zwangsernährung dürfte bei entsprechender Willens­dokumentation ausgeschlossen sein.

Prof. Gian Domenico Borasio: Eine Form der künstlichen
Ernährung ist die Verabreichung von Nährstoffen durch Infusion (über
Venenzugang) direkt in die Blutbahn. Nicht mehr essen und kaum mehr trinken zu können und zu wollen, sind oft Anzeichen eines nahenden Todes bei hochbetagten Menschen. Doch was biologisch-physiologisch beim Sterben im Detail passiert, wissen auch Ärzte und
Wissenschaftler leider nur unzureichend – das sagt Prof. Gian Domenico Borasio,
einer der bekanntesten europäischen Palliativmediziner. Er beschreibt das, was
geschieht, folgendermaßen: Das Gehirn schüttet bestimmte Botenstoffe aus, die
Hunger und Durst abstellen. Dann darf auch auf die Flüssigkeitsaufnahme verzichtet werden, denn gerade die leichte Austrocknung ist für den Sterbenden gut!
Nur dann produziert das Gehirn auch körpereigene Opium-Stoffe: Sie beruhigen,
lindern Schmerzen und Atemnot. Angehörige und unerfahrenes Personal sind dann oft alarmiert, was sicher verständlich ist. Doch ein Aufzwingen von Flüssigkeit, Nahrung oder auch Sauerstoff würde nur mehr Beschwerden und Schmerzen bereiten, wie Prof. Borasio
in seinem Buch »Über das Sterben« ausführt.

https://www.youtube.com/watch?v=ou50WyBwF3U

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Kommentare

  • ich danke von herzen für deinen beitrag nils

    namaste

    tina

  • Lebensverlängernde Maßnahmen ist ein Gummibegriff - dennoch ist das wichtigste, das jeder selbst erkennt, wo die Grenze für den anderen ( Mutter... ) sein könnte. Wenn ein Mensch vom Individuum zum Vegetativum wird, ist die Grenze für mich erreicht. Die künstliche Ernährung über die PEG-Sonde ist kein Kriterium für die Definition. Der Normalfall ist die manuelle Ernährung ( einer zweiten Person ) im eigenen Haus, und wenn Gott die Zeit nimmt, dann ist es der rechte Heimweg.

  • Lieber Nils, danke das du diese persönlichen Dinge mit mir teilst.

    Meiner Mutter (Jahrgang 1929) geht es noch sehr gut.

    Doch irgndwann werde ich mit dem Tod meiner Mutter konfrontiert werden. Außer ich sterbe vor ihr, was ich nicht möchte.

    Om shanti

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