Die drei Wünsche
Was würdest du dir wünschen, wenn du drei Wünsche frei hättest? Dorje war ein armer tibetischer Bauer. Er lebte mit seiner Frau Pemala ein einfaches Leben auf dem Land. Er hatte eine kleine Hütte, einige Yaks (Schafe) und ein steiniges Weizenfeld. Er lebte in der schönen tibetischen Gebirgslandschaft, aber seine Frau war leider sehr streitsüchtig. Sie hatte immer etwas an ihm zu kritisieren. Er dagegen war sehr faul und konnte sich kaum aufraffen, das notwendige Geld zum Leben zu verdienen. So machten sie sich beide gegenseitig das Leben schwer.
Andererseits war Dorje sehr gläubig. Er glaubte an Buddha und die vielen Gottheiten, die es im tibetischen Buddhismus gibt. Jeden Tag betete er vor seinem Hausaltar zur Göttin Tara. Eines Tages wurden seine Gebete belohnt. In einer Vision erschien ihm die Göttin Tara. Sie erklärte ihm, dass er drei Wünsche frei hätte.
Aufgeregt rannte er zu seiner Frau und berichtete ihr von dem glücklichen Ereignis. Aber Pemala glaubte nicht an die Vision und lachte ihn aus: „Dann wünsche dir doch eine schönere Nase.“ In der Tat hatte Dorje eine sehr dicke und hässliche Nase. Die Menschen im Dorf nannten ihn deshalb Kartoffelnase, weil seine Nase wie eine dicke Kartoffel aussah. Pemala litt sehr unter dem hässlichen Aussehen ihres Mannes. Sie wünschte sich einen schönen Mann. Insofern war dieser Wunsch durchaus berechtigt.
Aber Dorje war darüber sehr beleidigt. Sie hatte seinen wunden Punkt getroffen. Wütend entgegnete er: „Ich wünsche, dass du auch so eine dicke und hässliche Nase wie ich hast. Dann kannst du nachempfinden, wie es mir mit meiner Kartoffelnase ergeht!“ Und tatsächlich wuchs Pemala sofort eine Kartoffelnase. Darüber war sie vollständig entsetzt. Sie hätte sich jetzt freuen können, dass ihr Mann Dorje tatsächlich Wünsche erfüllen könnte. Sie hätte den Segen in der Situation erkennen können. So hätte sie jetzt sich mit klarem Verstand zwei wirklich gute Wünsche überlegen können. Sie hätte sich viel Geld, andauernde Gesundheit oder ein Kind wünschen können. Danach sehnte sie sich eigentlich schon lange. Dorje hätte sich die Erleuchtung wünschen können oder wenigstens, dass seine Frau in Zukunft immer glücklich ist.
Stattdessen fixierte sich Pemala nur auf ihre Kartoffelnase und befahl ihrem Mann: „Wünsche sofort meine Nase weg.“ Da Dorje etwas dumm und gewohnt war, seiner Frau auf das Wort zu folgen, erfüllte er ihr sofort ihren Wunsch. Jetzt hatte sie gar keine Nase mehr, was ihr auch nicht gefiel. Statt einer Nase war ein großes Loch in ihrem Kopf. Darüber war sie noch mehr entsetzt als über ihre Kartoffelnase. Sie verlangte von ihrem Mann: „Ich möchte wieder normal wie vorher aussehen.“ Auch diesen Wunsch erfüllte ihr Dorje. Doch leider waren jetzt alle drei Wünsche verbraucht und seine jahrelange Gebetspraxis war vergebens.
Oder war sie doch nicht vergebens? Dieses ist ein tibetisches Märchen. Vielleicht hat es einen tieferen Hintergrund? Die dicke Nase können wir als die Technik der Meditation auf die Nase begreifen. In der Nase verbinden sich wichtige Energiekanäle. Durch die Konzentration auf die Nase können diese Energiekanäle geöffnet werden. Die Erleuchtungsenergie kann sich entwickeln, wenn er oft genug auf seine Nase meditiert.
Tatsächlich gibt es im Buddhismus die Atembetrachtung. Man meditiert dabei auf den Atem in der Nase oder im Bauch. Im indischen Yoga gibt es die Wechselatmung, bei der man abwechselnd das linke und das rechte Nasenloch zudrückt. Dadurch wird der rechte und der linke Energiekanal im Körper (Idala und Pingala) aktiviert, was zur Erweckung der Kundalini-Energie führen kann.
Wenn man dank einer Atemmeditation voller spiritueller Energie ist, dann spürt man Frieden und Glück in sich. Jetzt fehlt zur Erleuchtung nur noch das Bewusstsein der Leerheit. Man muss sein Ego überwinden, sich selbst und alle Dinge als leer erkennen. Nichts hat eine eigene Identität. Man ist Einheitsbewusstsein, Ichlosigkeit, Ruhe und Glück. Man ist Licht und sieht das Licht in allem. Das geschieht durch die Erkenntnis der Leerheit aller Dinge, die im tibetischen Buddhismus viel geübt wird. Erst visualisiert man sich als Buddha oder als Göttin und erweckt dadurch die Erleuchtungsenergie in sich. Und dann bringt man seinen Geist völlig zur Ruhe, löst alle Anhaftungen auf, erkennt alles als leer und tritt in die Egolosigkeit ein.
In der dritten Stufe strebt man dann danach wieder völlig normal zu werden. Man verhält sich als Erleuchteter völlig normal. Man ist innerlich glücklich, ohne Ego, aber äußerlich normal. Man bleibt auch als Erleuchteter bescheiden und demütig. Man tritt nicht als großer erleuchteter Meister auf. Man bleibt unauffällig und vermeidet dadurch den spirituellen Stolz, der einen an der weiteren spirituellen Entwicklung hindern kann. Im Buddhismus heißt es deshalb: „Vor der Erleuchtung Holz hacken und Wasser tragen. Nach der Erleuchtung Holz hacken und Wasser tragen.“
Dorje und seine Frau Pemala haben in Wirklichkeit die drei Stufen der Erleuchtung durchlaufen. Sie wurden von der Göttin Tara mit der Erleuchtung gesegnet. Ihr langjähriger spiritueller Weg wurde von Erfolg gekrönt. Sie habe durch eine Atemmeditation ihre Erleuchtungsenergie aktiviert. Dann haben sie ihr Ego aufgelöst. Und wurden sie wieder völlig normal. Sie lebten ein ganz normales Leben, nur ohne Ego, dafür dauerhaft in der Liebe, im Frieden und im Glück.
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