Wir müssen uns damit abfinden: die Conditio humana
Corona im Dienste der Evolution
Kaum haben sich die Corona Wolken etwas gelichtet, zieht eine neue dunkle Front herauf: der Angriff auf die Ukraine. Die zurückgewonnene „Normalität“ (haben wir gar nichts gelernt?) wird unterschwellig von einem mulmigen Gefühl getrübt, das sich mit einer Steigerung der Preise, einer Energiekrise und dem Ausfall von Lieferketten konkretisiert. Aber vergessen wir nicht: Im Vergleich zu vielen anderen Ländern geht es uns gut – ein Grund zur Dankbarkeit trotz allem.
Die vergangenen beiden Corona-Jahre haben uns drastisch vor Augen geführt, dass wir uns mehr denn je mit der Ungewissheit und der Unberechenbarkeit des Lebens arrangieren müssen. Unsere Pläne und Erwartungen werden immer wieder durchkreuzt und Unerwartetes tut sich auf. Es gibt im menschlichen Geist (Verstand und Emotionen) keine Gewissheiten, damit müssen wir uns abfinden – die Conditio humana. Gewissheiten müssen wir woanders suchen, zum Beispiel wenn wir unseren unsteten Geist transzendieren …
Mit der wärmeren Jahreszeit hat sich die Infektionslage etwas entspannt. Die Corona-Maßnahmen werden weitgehend zurückgenommen, aber von Entwarnung ist keine Rede. Es werden wohl immer wieder neue Varianten auftauchen und unerwartete Situationen entstehen. Bis die Menschheit ihre Lektionen gelernt hat? (Vergl. VISIONEN Okt/Nov 21: „Wir haben uns verirrt“) „Es kann so oder so oder auch ganz anders kommen“, konstatiert der Corona-Modellier Dirk Brokmann, Physiker an der Berliner Humboldt-Universtät.
Karikatur: Klaus Stuttmann
Mehr und mehr Menschen fassen sich an den Kopf und fragen nach dem Sinn des ganzen Theaters: „Was soll denn das alles?“ Und weswegen? „Was ist denn der Sinn hinter allem? Und des Daseins überhaupt?“ Sie fragen sich das, obwohl durch die gegenwärtig komplexer gewordene Lebensbewältigung ihnen weniger Zeit zum Nachdenken bleibt. Oder vielleicht gerade deswegen? Dabei hat die Naturwissenschaft die Sinnfrage längst beantwortet. Doch wenige sind sich dessen bewusst; die meisten leben ohne inneren Kompass.
Die Evolutionsforschung der letzten Jahrzehnte hat die Abstammungslehre von Charles Darwin in ihren Grundzügen bestätigt. „Nichts macht Sinn in der Biologie außer im Lichte der Evolution“, sagt Theodosius Dobzhansky einer der großen Evolutionsbiologen. Und worauf hat es die Evolution abgesehen? Von der Urzelle bis zum Menschen: Die Organismen werden im Verlauf der Stammesgeschichte immer komplexer, sie werden immer cleverer in ihrer Überlebensstrategie und bewusster im Erleben ihres Daseins. Das Leben in der Materie wird immer intensiver.
Begonnen hat das ganze Spiel, so die plausible Hypothese, vor etwa 14 Milliarden Jahren mit einem „Urknall“, einem großen Symmetriebruch des ewigruhenden Vereinheitlichten Feldes, das von der Quantenphysik als der abstrakte Urgrund unseres Universums angesehen wird. Es folgt eine fantastische kosmische Evolution, die nach etwa 9,5 Milliarden Jahren zur Entstehung der Erde führt. Hier, auf unserem Planeten, finden sich die Vorbedingungen zur Entstehung des Lebens: eine Fülle an biogenen Elementen, die zur Synthese von DNA- und Protein-Makromolekülen führt. Aus ihrer Vereinigung ist wahrscheinlich das Leben, das Biomolekül, hervorgegangen – der Hypothesen sind viele. Die meisten Forscher verschließen sich der Akzeptanz einer mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht nachweisbaren intelligenten Evolutionsdynamik, eines Willens zum Leben und eines Drangs nach Weiterentwicklung, nach Transzendenz – kommen jedoch ohne ihre Annahme nicht aus.
Das Leben beginnt vermutlich im Wasser. In der „Ursuppe“ des Meeres gibt es alsbald eine Fülle von vielfältigen sich selbst organisierenden Biomolekülen. Sie vereinigen sich und fallen wieder auseinander, bedingt durch aggressive Sonnenstrahlen und elektrische Entladungen; sie suchen nach neuen Partnern, ein Hin und Her, ein Prozess über Jahrmillionen – Aufbau und Zerfall. Aber irgendwann, irgendwo kommt es „durch Zufall“, oder sagen wir durch Resonanz, zu festen Beziehungen, zu stabilen Partnerschaften mit ganz neuen Qualitäten.
Kennen wir das nicht auch aus unserem eigenen Leben? Wir sehnen uns nach einem Partner, gehen diese oder jene Beziehung ein, bis wir „zufällig“ mit jemandem eine Resonanz erleben – uns verlieben – und unseren Lebenspartner (hoffentlich!) gefunden haben. Ähnlich verhält es sich mit der Evolution: Da ist nur diese Sehnsucht nach Erfüllung. Wie diese Erfüllung sich gestaltet, ist offen.
Das Prinzip der Selektion
In der Ursuppe, so ist anzunehmen, beginnt auch ein Wettlauf ums Überleben. Die Urzellen waren für ihre Ernährung auf organische Nahrung angewiesen und haben sich wahrscheinlich gegenseitig gefressen. Nur die Fittesten haben überlebt: Hier kommt vermutlich zum ersten Mal das Prinzip der Auslese ins Spiel, der „Selektion“, das die Evolution vorantreibt. Wir finden es auf allen Stufen der Stammesgeschichte: bei den Fischen, Amphibien, Reptilien, Säugetieren und dem Menschen. Auf der sich anbahnenden kommenden Stufe der Evolution wird das Prinzip der natürlichen, unbewussten Selektion durch eine vom Menschen ausgehende bewusste Evolution ergänzt. (Siehe weiter unten.)
Die natürliche Selektion ist beim Gegenwartsmenschen durch ein soziales Netz weitgehend abgefedert, aber auf kollektiver Ebene kann sie sich, beispielsweise im Arbeitsleben, mit aller Härte zeigen. Da gibt es Firmen und Konzerne, die andere ausstechen oder zur feindlichen Übernahme zwingen oder die durch Fusionen an Macht gewinnen. Noch sind wir weitgehend unfähig zur Kooperation und damit zur Koevolution.
Es sind zwei Urtriebe, welche die Evolution vorantreiben: ein wachsamer Überlebenstrieb und ein unbewusster Drang nach Wachstum und Selbsttranszendenz. Sie sind es, die schon die Urzellen bewegen – ein Leben als ständige Wachsamkeit und mit dem naturgegebenen Trieb über sich selbst hinauszuwachsen, zu evolvieren. So wird hier bereits auf dieser Ebene der Sinn des Lebens offenbar: die Evolution des Bewusstseins = mehr Intelligenz zum Überleben und mehr Intensität zum Erleben = mehr Daseinsfreude.
Im Wettlauf der Evolution
Die Evolutionsbiologen bedienen sich zur Veranschaulichung der niemals ruhenden Evolutionsdynamik einer Metapher aus dem beliebten Kinderbuch „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll (1865) und seiner Weiterführung „Alice hinter den Spiegeln“. Hier entdeckt Alice im Traum hinter dem großen Spiegel auf dem Sims des Kamins eine ganze Parallelwelt. Das kleine Mädchen begegnet u.a. der roten Königin, die es an der Hand nimmt und mit ihm aus Leibeskräften rennt:
Das Seltsamste dabei war, dass sich die Bäume und alles andere um sie her überhaupt nicht vom Fleck rührten: Wie schnell sie auch rannten, liefen sie doch anscheinend nie an etwas vorbei. (…) „In unserem Land“, sagte Alice, noch immer ein wenig atemlos, „kommt man im Allgemeinen woandershin, wenn man so schnell und lange läuft wie wir eben.“ „Behäbige Gegend!“, sagte die Königin. „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man mindestens doppelt so schnell laufen!“ [i]
Illustration: John Tenniel 1871. Kolorierung: Scylla
Die Evolutionsbiologen sprechen von der „Roten Königin- Hypothese“, wenn es in einem Koevolutionsprozess um ein ständiges gegenseitiges Aufholmanöver geht: Das System muss sich kontinuierlich entwickeln, um mit konkurrierenden Systemen mitzuhalten. Dabei sind es nicht die Umweltbedingungen, die den „Roten-Königin-Effekt“ auslösen, sondern die Lebenskraft und der Überlebensdrang der beteiligten Organismen. Gleichzeitig kommt es, als Nebenerscheinung gewissermaßen, zu evolutionärem Fortschritt. So kann es zum Beispiel zwischen einem Parasiten und seinem Wirt zu einem evolutionären Wettrüsten kommen, um „auf dem Laufenden“ zu bleiben.
Vielleicht trifft das auch zu beim Corona-Virus und seinem Wirt, dem Menschen. Da das körpereigene Abwehrsystem sich von Natur aus immer wieder anpasst, muss das Virus ständig mutieren, um es auszutricksen und um anzudocken. Vielleicht unterbindet damit ein Impfstoff, welcher das Abwehrsystem stärken soll, die Mobilisierung der von Natur aus gegebenen Abwehrkräfte. In die wechselseitige Anpassung, den Wettlauf zwischen Virus und Immunsystem, wird von außen ein Ungleichgewicht zugeführt.
Auch die Koevolution zwischen Mensch und Natur ist gestört. Wir suchen ständig nach mehr Wohlstand und Freizeit und beuten dabei die Natur aus – wir sägen am Ast auf dem wir sitzen. Zahlreiche Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass durch die Abholzung des Regenwaldes Wildtiere ihres Lebensraumes beraubt werden und auf ihrer Nahrungssuche mit Menschen in Kontakt kommen. Dabei werden auch Krankheiten übertragen: Zoonosen, von Tieren auf Menschen übertragene Krankheiten. Hierzu gehört aller Wahrscheinlichkeit auch Covid 19. Die Natur gibt Feedback.
Gefahr der Stagnation
In unserem Hunger nach Wohlstand und Freizeit beuten wir nicht nur die Natur aus, sondern versuchen auch ständig, unser Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Durch Einsatz von Maschinen und Robotern, durch Automatisierung und Digitalisierung kommt es – abgesehen vom Einarbeitungsstress – langfristig zur Arbeitserleichterung und zur Arbeitszeitverkürzung. Die gewonnene Freizeit wird vielfach mit Spaß und Konsum gefüllt; bei manchen Wohlstandsbürgern schleicht sich ein Hang zur Bequemlichkeit und zur Passivität ein. Manch einer fährt mit dem Auto zur Arbeit, obwohl er die Strecke problemlos mit dem Fahrrad zurücklegen könnte und damit gleichzeitig auch seine Fitness und Abwehrkräfte „boostern“ würde.
Aber die Natur will Evolution. Und in diesem Zusammenhang ist auch Corona zu sehen. Das Virus hat es geschafft, uns auf Trab zu bringen. Das Leben ist mit all den sich ständig ändernden Corona-Regularien komplizierter und unberechenbarer geworden und wird als eingeengt empfunden. Die Zahl der psychisch Erkrankten hat sich in den letzten beiden Jahren verdoppelt.
Besteht von Natur aus ein Wettlauf mit der Zeit, wie bei Alice und der roten Königin, so ist jetzt das Tempo noch schneller geworden. Die Bewältigung des Alltags verlangt von jeher Tausende von Handgriffen, die teils zur Routine werden. Jetzt kommt eine ständige Auseinandersetzung mit immer wieder neuen Innovationen und Regularien sowie eine fortschreitende Digitalisierung hinzu. Schließlich ist da noch das mulmige Gefühl oder sogar eine lähmende Angst vor einem übergreifenden Krieg aus der Ukraine. Sei wachsam, bleibe „auf dem Laufenden“ und – wichtig – bleibe gleichzeitig etwas distanziert, oder du kommst unter die Räder.
Leben ist ein Wettlauf mit der Zeit; aber auch die Materie hält uns auf Trab. Denn die Materie an sich unterliegt von Natur aus der Desintegration. In einem geschlossenen System zum Beispiel, d.h. ohne Zufuhr von Energie von außen, zerfällt sie und löst sie sich auf in ihren Grundzustand. Die Zustandsbefindlichkeit eines Systems, den Grad seiner Ordnung, bezeichnen die Physiker als Entropie. Sie kann zunehmen, gleichbleiben (Fließgleichgewicht) oder abnehmen. Auf den Menschen übertragen heißt das, wie bei Alice hinter den Spiegeln, wir müssen ständig aktiv sein, um unseren Status quo aufrecht zu erhalten; und um ihn zu verbessern, müssen wir uns mehr anstrengen: So steht es nun mal mit der Conditio humana.
Innehalten
Aber nicht nur strampeln. Machst du auch mal eine Pause? Hältst du inne, lässt du mal die Seele baumeln und gibst der Kreativität und der Vernunft eine Chance? Wenn du ständig schneller laufen musst, wirst du bald erschöpft sein. Schau dich einmal um. Vielleicht gibt es noch effizientere Wege, die dir in der Entspannung einfallen, um mit weniger Anstrengung ans Ziel zu kommen.
Mach mal Pause: innehalten – sich öffnen für kreative Einfälle
Foto: Christian Brehmer
Achtsamkeit, Reflexion, Bewusstsein sind das, was die Evolution von uns erwartet. Sie erleichtern unsere Lebensbewältigung und geben unserem Wunsch nach Selbstverwirklichung mehr Freiraum. Vielleicht meldet sich dann bei mir, nachdem alle meine Grundbedürfnisse und Verpflichtungen erfüllt sind, mein lang gehegter Wunsch, ein Musikinstrument zu erlernen. Oder ich investiere Zeit, um mein Bewusstsein bewusst zu erweitern. Damit beschleunige ich meine Evolution und bringe mehr Achtsamkeit, mehr Fluss und eine unterschwellige Freude in mein Leben.
Hat mich bislang die ständig sich ändernde Umwelt zur Anpassung gezwungen und damit die Erweiterung meines Bewusstseins unbewusst vorangetrieben, so kooperiere ich jetzt mit der Evolution, indem ich mein Bewusstsein bewusst erweitere: ein Phasensprung in der langen Geschichte der Evolution!
Der Wege und Angebote sind viele: Yoga, Meditation, Tai-Chi, Chi-Gong, Achtsamkeitstraining u.a.m. Entscheidend ist, dass ich mich auf einen mir gemäßen Weg einlasse und am Ball bleibe, d.h. nachhaltig praktiziere. Damit unterstütze ich das was das Leben ohnehin schon mit mir vorhat: die evolutionäre Erweiterung des Bewusstseins. Fortan brauche ich weniger Frust und Ärger, um mich durch Feedback und Reflexion wieder auf die richtige Spur zu bringen. Ich erfülle den Sinn des Lebens, und das Leben kommt mir entgegen! Eine Gesellschaft, die nicht den Sinn des Lebens kennt, lebt blind.[ii]
Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss. (Goethe, Faust II)
Verfasser:
Dr. Christian Brehmer, Evolutionsforscher, Philosoph und Autor, www.bewusstseins-evolution.de E-Mail: brehmer.c@web.de t Vom Urknall zur Erleuchtung. Die Evolution des Bewusstseins als Ausweg aus der Krise (Verlag Via Nova, 2007) Woher? Wohin? Orientierung im Leben. Die Evolution des Bewusstseins als Ausweg aus der Krise (Verlag Via Nova, 2018)
[i] Hoff, Peter, et al.: Evolution. Schroedel Verlag, Hannover 1999, S. 109
[ii] Brehmer, Christian: Wir haben uns verirrt. Uns fehlt die entscheidende Dimension. In: Visionen 6/2021
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