Der Weg der Meditation und der Liebe

Schneeweißchen und Rosenrot

Es war einmal eine arme Witwe, die lebte mit ihren beiden Töchtern in einer kleinen Hütte am Rande des großen Waldes. Die Töchter hießen Schneeweißchen und Rosenrot. Schneeweißchen war eher ruhig. Sie liebte es alleine im Wald zu sitzen und zu meditieren. Im Haushalt war sie nicht gut zu gebrauchen, weil sie so langsam war und sich leicht in ihren meditativen Gedanken verlor. Rosenrot war ganz anders. Sie war lebhaft, tatkräftig und weltzugewandt. Sie half der Mutter gerne bei ihrer Arbeit. Sie putzte, kochte und pflegte den Garten. Sie verkaufte das Gemüse auf dem Markt und sorgte für das Überleben der kleinen Familie.

Im Garten der Familie wuchsen weiße und rote Rosen. Die weißen Rosen gehörten Schneeweißchen und die roten Rosen Rosenrot. Die roten Rosen waren Symbole der Liebe und der Tatkraft. Die weißen Rosen verkörperten die Reinheit des spirituellen Weges. Schneeweißchen interessierte sich eher für die innere Reinigung und Rosenrot wollte mit ihrer großen Liebe am Liebsten alle Wesen glücklich machen.

Die Gelegenheit dazu ergab sich, als eines Tages im Winter ein großer Bär an die Tür der kleinen Hütte klopfte: „Lasst mich herein. Mir ist so kalt hier draußen.“ Rosenrot öffnete geschwind die Tür und bat den braunen Bären in die gute Stube, in der es schön warm war. Da lag der Bär gemütlich den ganzen Winter vor dem flackernden Kamin und genoss das glückliche Zusammensein mit der kleinen Familie. Und Schneeweißchen und Rosenrot waren sehr dankbar für ihren Wintergast. Sie kraulten ihm das Fell und gaben ihm manchmal etwas Honig zu naschen, denn Bären lieben Honig.

Als es Frühling wurde, erklärte der Bär: „Ich muss euch jetzt verlassen. Ich werde den Sommer über viel essen, damit ich den Winter gut überstehen kann.“ Traurig winkten ihm die beiden Mädchen nach und sahen, wie er langsam im großen Wald verschwand. Oft gingen sie in den Wald, um nach dem Bären zu suchen. Aber sie fanden ihn nicht.

Dafür trafen sie einen garstigen Zwerg, der seinen Bart beim Holzhacken in einem Baumstamm eingeklemmt hatte. Er rief: „Macht mich frei. Macht mich frei.“ Da nahm Rosenrot eine Schere und schnitt ihm den Bart ab. Jetzt schimpfte der böse Zwerg erst recht: „In dem Bart sitzt meine Kraft. Ihr habt mir meine Kraft genommen.“ Dann verschwand er wütend im Dickicht des Waldes.

Als Schneeweißchen und Rosenrot am nächsten Tag in den Wald gingen, riet ihnen die Mutter: „Hütet euch vor dem Zwerg. Er ist böse und hat große Zauberkräfte. Er könnte euch etwas antun.“ Die Kinder antworteten: „Wir sind vorsichtig, liebe Mutter.“ Aber wie Kinder so sind, waren sie doch leider unvorsichtig. Sie trafen wieder auf den bösen Zwerg. Diesmal hatte der Zwerg den kargen Rest seines Bartes beim Angeln im Fluss in der Angelschnur verfangen. Rosenrot nahm wieder die große Schere und schnitt ihm schnipp schnapp den restlichen Bart ab. Jetzt hatte der Zwerg keine Zauberkraft mehr. Er fluchte bösartig und versteckte sich schnell im Wald. Diesmal hatten die beiden Mädchen Glück. Der Zwerg hatte ihnen nichts angetan. Aber beim dritten Treffen ging die Sache nicht so gut aus.

Einige Zeit später sammelten die beiden Mädchen im Wald Brennholz. Da sahen sie den bösen Zwerg, wie er auf einer Lichtung um seinen Schatz aus Gold und Edelsteinen herum tanzte und dabei sang: „Ich bin reich. Ich bin reich. Ich habe dem König sein ganzes Geld gestohlen. Und jetzt werde ich die beiden Mädchen in Krähen verzaubern.“ Plötzlich kam aus dem Dunkel des Waldes schnaubend der braune Bär gerannt und schlug mit seiner Tatze den bösen Zwerg tot. Jetzt konnte er den Schwestern nichts mehr antun. Der Bär erklärte ihnen: „Dieser Zwerg hat meinem Vater den Schatz gestohlen und mich in einen Bären verwandelt. Durch seinen Tod konnte ich mich erlösen.“

Und schon stand ein edler Prinz in einem goldenen Gewand vor den beiden jungen Frauen. Schneeweißchen verliebte sich sofort in den Prinzen, weil er eine so starke und ruhige Ausstrahlung hatte. Der Prinz hatte einen Bruder, der ähnlich lebhaft war wie Rosenrot. Schneeweißchen heiratete den ruhigen Prinzen, Rosenrot seinen wilden Bruder und der alte König heiratete die Mutter der beiden Mädchen. So waren alle verheiratet und lebten glücklich und zufrieden zusammen im großen Schloss.

Das Märchen sagt uns, dass auf dem spirituellen Weg verschiedene Elemente zusammenkommen müssen, damit es zur mystischen Hochzeit mit dem Licht kommen kann. In der mittelalterlichen Mystik gibt es dafür die weißen Lilien (hier die weißen Rosen) und die roten Rosen. Manchmal werden auf den Wappen auch weiße und rote Rosen gezeigt. Die weißen Lilien stehen für den Weg der inneren Reinigung und der Meditation. Die roten Rosen symbolisieren den Weg der umfassenden Liebe und der Aktivität.

Der christliche Mystiker Meister Eckhart lehrte, dass das höchste christliche Ziel die Verbindung von Maria und Marta sein sollte. Maria und Marta waren zwei Schwestern. Als Jesus sie besuchte, diente ihm Marta fleißig, während Maria nur verzückt in der Meditation versunken bei Jesus saß. Ein wahrer Christ sei kontemplativ und karitativ zugleich, wobei nach Meister Eckhart die tätige Liebe den Vorrang hat. Im Buddhismus gibt es dafür den Weg des Mahayana, der die Liebe in das Zentrum stellt, sie aber mit dem Weg der Meditation verbindet. Laut Dalai Lama sollten aktive Liebe und ruhige Meditation gleichgewichtig zusammenwirken.

Im Yoga wird dieser Weg zum Trimurti-Yoga erweitert. Die Götter Shiva, Vishnu und Brahma bilden zusammen die Trimurti, die göttliche Dreiheit. Shiva verkörpert den Weg der Meditation, Vishnu den Weg der Liebe und Brahma den Weg der Weisheit. In unserem Märchen können wir die alte Mutter und den alten König als Element der Weisheit, Schneeweißchen als Element der Ruhe und Rosenrot als Element der Liebe ansehen. Deshalb endet das Märchen bei mir mit einer Dreierhochzeit. In der Originalfasssung der Brüder Grimm gibt es nur eine Doppelhochzeit der beiden Schwestern. Die alte Mutter zieht zu dem König ins Schloss.

Warum ist es so wichtig, dass wir auf dem spirituellen Weg Ruhe, Liebe und Weisheit verbinden? Durch den Weg der Ruhe und der Meditation lösen sich unsere inneren Verspannungen. Durch den Weg der umfassenden Liebe gelangen wir in ein Einheitsbewusstsein. Durch den Weg der Weisheit wissen wir, wann was in welcher Dosierung zu tun ist. Liebe ohne Ruhe verbraucht sich. Liebe ohne Weisheit kann sogar schädlich sein. Durch Ruhe ohne Liebe versinken wir in der Trägheit.

Der Tod des Zwerges symbolisiert den Tod des Egos. Spannend an diesem Märchen ist, dass das Ego schrittweise abgebaut wird. Wir müssen langfristig an unseren Gedanken und Gefühlen arbeiten, damit unser Ego kleiner wird und sich eines Tages ganz auflöst. Wir sollten es üben, die Dinge so anzunehmen wie sie sind und gelassen mit dem Leben fließen. Wir sollten in der umfassenden Liebe leben und gut zu allen Wesen sein. Wir sollten mit Weisheit unseren Weg gehen und unser Leben im Schwerpunkt auf das Ziel der Erleuchtung (der Vereinigung mit dem Licht) ausrichten, damit aus uns auch eines Tages ein goldener König (Buddha) oder eine goldene Königin (Göttin) wird. Mögen wir alle im Licht leben und das Licht in unsere Welt bringen.

https://www.youtube.com/watch?v=C9HCwxHjs-o

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