Der traurige kleine Yogi

Es war einmal ein Yogi, der war von Geburt aus klein, schwach und hässlich. Er hatte keine besonderen Fähigkeiten. Er wusste nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Zu arbeiten hatte er auch keine Lust. Also besuchte er die Schule und begann danach zu studieren. Er studierte alles, wonach ihm gerade der Sinn war. Er studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft. Aber alle Studiengänge befriedigten ihn nicht. Also wurde er Yogalehrer.

Da er hässlich und sozial völlig unbegabt war, fand er auch keine Freundin. Aber als Yogalehrer hatte er ein gewisses Talent. Er war zwar völlig ungelenkig und hatte als Yogalehrer seinen Abschluss nur bestanden, weil die Ausbilder Mitleid mit ihm hatten. Aber da er sehr einfach dachte, konnte er seinen Yogaschülerinnen gut Yoga beibringen. Sie liebten ihn, gerade weil er so klein und mickrig war. Bei ihm konnten sie so sein wie sie waren. Sie brauchten sich besonders hervortun, weil der Yogalehrer ja auch nichts Besonderes war.

Eine Fähigkeit hatte der kleine Yogi allerdings. Er konnte Energie spüren. Er konnte die Energie bei sich und bei seinen Mitmenschen spüren. Er konnte ihre Gefühle spüren. Er konnte genau erkennen, welche Übungen seine Mitmenschen brauchten, wie die Übungen am besten wirkten und wie er eine Gruppe anleiten musste, damit sie ein Erfolg wurde. So kam es, dass immer mehr Menschen seine Gruppe besuchten. Sie spürten, dass sie hilfreich für sie war.

Trotzdem war der kleine Yogi traurig. In einem Buch hatte er gelesen, dass ein Yogalehrer erleuchtet sein müsse, damit er seinen Schülern gut helfen kann. Leider war er überhaupt nicht erleuchtet. Er strengte sich sehr an, meditierte viel, machte die verrücktesten Übungen und lebte abgeschieden als Yogi. Aber der große Sieg blieb aus. Sein spiritueller Weg entpuppte sich als langwierig und mühsam.

Er betete zu seinen Meistern und bat sie ihm auf seinem Weg zu helfen. Seine Meister schenkten ihm viele Erleuchtungserfahrungen, aber der große Durchbruch ins dauerhafte Glück ließ auf sich warten. Er fragte seine Meister, warum er ewig so ein kleiner Yogi bleiben müsse. Die Meister antworteten ihm, dass die schlimmste Eigenschaft eines Yogis der Stolz sei. Und deshalb hätten sie einen sehr langen Weg zur Erleuchtung für ihn vorgesehen. Der Weg sei so lang, dass er keinen Stolz entwickeln könne. Vielmehr würde es ihm auch nach seiner Erleuchtung immer peinlich sein, dass er so lange zur Erleuchtung gebraucht hätte.

Einige schaffen es in fünf Minuten (Ramanamaharshi), manche in vierzig Tagen (Jesus), die tibetischen Tulkus in einem Dreijahres-Retreat (Mingyur Rinpoche), Buddha brauchte sechs Jahre und in den Yogaschriften gelten zwölf Jahre als angemessene Zeit. Doch der kleine Yogi ging Jahr für Jahr seinen Weg.

Deshalb entwickelte er die Lehre, dass der Weg das Ziel sei. Es komme nur darauf an, in der persönlichen Geschwindigkeit und im Rahmen der persönlichen Möglichkeiten den spirituellen Weg zu gehen. Jeder sollte tun, was er tun kann. Und vor allem jeden Tag zu seinem persönlichen spirituellen Vorbild beten (Buddha, Amitabha, Jesus, Shiva, Gott oder Göttin) und dann konsequent aus der Stimme seiner inneren Weisheit handeln. Auch wer nur mit kleinen Schritten vorangeht, erreicht eines Tages sein Ziel, wenn er in die richtige Richtung geht. Auch Kleine können siegen. Selbst wenn es viele Leben dauert. Aber auch das ist egal. Wichtig ist nur, dass sich der persönliche Weg richtig anfühlt.

Als der kleine Yogi diese Lehre aufgestellt hatte, verschwand seine Trauer und er war glücklich. Alles ist richtig so wie es ist. Wer in der großen Richtigkeit lebt, der ist schon fast erleuchtet. Mehr gibt es nicht zu tun. Alles andere geschieht von alleine. Wir überlassen uns einfach vertrauensvoll dem Leben und der Führung unserer inneren Weisheit. Im Buddhismus ist das der Weg des Amitabha-Buddhismus (der Lehre vom Reinen Land). Im Hinduismus nennt sich dieser Weg Bhakti-Yoga (Gottheiten-Yoga). Ein tägliches kleines Ritual genügt, ein Gebet zu Buddha Amitabha oder eine Verbeugung vor der persönlichen Gottheit auf dem Hausaltar.

Eines Tages wurde der kleine Yogi ein Buddhist und legte das Bodhisattva-Gelöbnis ab. Von jetzt an hatte sein Leben einen tieferen Sinn. Er lebte für das Glück seiner Mitmenschen. Er lebte für eine Welt der Liebe, des Frieden und des allgemeinen Glücks. Dadurch löste sich die Egofixierung auf. Es war jetzt egal, ob der Yogi klein und mickrig oder groß und stark war. Es spielte keine Rolle mehr. Man braucht nur das Glück aller in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen und schon ist man in der umfassenden Liebe.

Der kleine Yogi lebte in der Liebe und strahlte Glück aus. Dadurch fand er sogar eine Frau und sein Lebensglück war perfekt. Natürlich gibt es kein perfektes Leben. Der kleine Yogi war immer noch nicht perfekt. Auch seine Frau war nicht perfekt. Und sein Leben auch nicht. Aber wer das Perfekte im Nichtperfekten sehen kann, für den ist alles perfekt. Wenn man konsequent seinen persönlich richtigen spirituellen Weg geht und in der umfassenden Liebe lebt, dann dient alles der spirituellen Entwicklung, auch und gerade das Nichtperfekte. Da wo das Nichtperfekte ist, da entwickelt sich Liebe, Mitgefühl, Weisheit, Humor und das Lachen des Lebens.

E-Mail an mich, wenn Personen einen Kommentar hinterlassen –

Sie müssen Mitglied von Yoga Vidya Community - Forum für Yoga, Meditation und Ayurveda sein, um Kommentare hinzuzufügen.

Bei Yoga Vidya Community - Forum für Yoga, Meditation und Ayurveda dabei sein