Der Gott der Weisheit erscheint einem Pilger

Der Wutai Shan ist einer der heiligsten Berge in China. Er liegt in der Nähe Pekings und ist ein wichtiges Ziel buddhistischer Pilger. Auf dem höchsten Gipfel befindet sich ein kleiner Tempel, in dem der Gott der Weisheit wohnt. Der Gott der Weisheit wird im Buddhismus Manjushri genannt und ist sowohl ein Buddha als auch ein Bodhisattva. Als Buddha ruht er in sich selbst und seinem inneren Glück. Als Bodhisattva hilft er allen Menschen Weisheit zu erlangen. In der linken Hand hält er ein Buch und in der rechten Hand ein Flammenschwert, mit dem er alle negativen Gedanken zerschlägt. Er zerstört damit alle Anhaftungen an die Welt und verwandelt den Menschen in einen Buddha.

Ein tibetischer Lama (spiritueller Lehrer) machte sich auf eine Pilgerreises zum Wutai Shan. Unterwegs visualisierte er den Gott der Weisheit und murmelte beständig sein Mantra. Er hoffte, dass ihm auf dem Wutai Shan der Gott der Weisheit erscheinen und ihn segnen würde. Dazu musste er ausreichend innerlich gereinigt sein. Diese innere Reinigung konnte durch das Gehen verbunden mit einer Visualisierung und einem Mantra geschehen. Dadurch lösen sich die Verspannungen (Samskaras) im Körper und im Geist. Die Chakren öffnen sich und die Erleuchtungsenergie beginnt zu fließen. Dann gelangt der Pilger in ein Einheitsbewusstsein und kann die Welt so sehen wie sie wirklich ist. In ihm entstehen Ruhe, Frieden, Glück, Liebe und Weisheit. Ich praktiziere das verbunden mit Atemübungen jeden Tag beim Spazierengehen in der Natur. Wenn man effektiv pilgert, kann das Pilgern (die tägliche Gehmeditation) zu einem Weg ins Licht werden.

Nach einem halben Jahr war der Lama beim Wutai Shan angekommen. Er erstiegt mühsam die vielen Stufen zum Berggipfel. Um ihn herum breitete sich die schöne Gebirgslandschaft aus. In den bewaldeten Berghängen blühten die Blumen und die Vögel sangen. Die Sonne schien und alles war lichtdurchflutet. Es war ein gesegneter Tag, an dem der Pilger den kleinen Tempel auf der Spitze des Berges betrat. Doch im Tempel saß statt eines Buddhas ein alter zerlumpter Bettler auf dem Thron. Er grinste den Lama frech an und bat um eine Spende. Der Lama zog ein kleines Geldstück aus seiner Tasche und legte es in die Bettelschale, die der alte Bettler in seinem Schoß hielt. Statt dankbar für das Geld zu sein, rief der Bettler mit donnernder Stimme: „Das genügt nicht. Ich verlange dein ganzes Herz.“

Da wusste der Pilger, dass der Gott der Weisheit Manjushri in Gestalt eines Bettlers vor ihm saß. Er opferte ihm sein ganzes Herz, sein ganzes Streben. Er ließ alle Anhaftung an die Welt los und erkannte sich in dem Bettler. Er identifizierte sich mit dem Bettler und wurde eins mit ihm. Dadurch erwachte die Erleuchtungsenergie in ihm. Er hatte einen ersten Durchbruch zur Erleuchtung. Der Energiestrom trat in ihn ein. Er erlangte Weisheit und kannte von jetzt an sein Ziel und seinen Weg. Er lebte von jetzt an so, dass alle seine täglichen Handlungen zu einem Erleuchtungsweg wurden. Er war achtsam auf seine Gedanken und Gefühle. Er meditierte viel. Er handelte nicht mehr aus dem Ego, sondern aus der Ruhe und der Liebe heraus.

Er sah sich als Nichts in Bezug auf die Welt. Er blieb stets demütig und bescheiden. Er nahm die Dinge so an, wie sie kamen. Er ordnete sich dem Willen des Lebens unter. Er war ein Buddha und ein Bettler zugleich. Seine spirituelle Haupttechnik war die Arbeit an seinen Gedanken. Er zerschlug alle negativen Gedanken mit dem Schwert der Weisheit. Er pflegte Gedanken des Friedens, der Liebe und der Wahrheit. Und weil er in der Wahrheit und der Liebe lebte, konnte er seine Mitmenschen mit seiner Wahrheit und Liebe erreichen. (Frei nacherzählt aus Tibetische Weisheitsgeschichten)

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