Der alte Meister sucht sich eine Frau

Da saß der alte Meister nun in seiner kleinen Hütte im Wald und langweilte sich. Viele Jahrzehnte hatte den spirituelle Pfad beschritten und eine gewisse Stufe der Erleuchtung erreicht. Er hatte viel meditiert, in spirituellen Büchern gelesen, mit Yogaübungen seine Kundalini-Energie erweckt und jeden Tag die Welt gerettet. Eine kleine Schar von Schülern hatte sich um ihn versammelt. Sie fühlte sich von seinen Lehren, seiner Energie und seiner Persönlichkeit angezogen.

Der alte Meister war ein ziemlich verschrobener Typ. Er redete nicht viel. Meistens saß er einfach nur ruhig in seinem Glück da. Aber er konnte auch sehr zornig werden, wenn die Menschen andere Meinungen als er hatte. Er war durchaus etwas intolerant, obwohl er eigentlich die Liebe, die Toleranz und die Freundlichkeit predigte. Er war nicht perfekt. Er hatte einige Fehler. Er selbst sah sich sogar als den mickrigsten Menschen auf der Welt an. Das liebten seine Anhänger so an ihm. Er war so wie sie. Individuell, unperfekt, Außenseiter in der glitzernden Welt des leistungsorientierten Konsumkapitalismus.

Der Meister lehrte es, seiner eigenen Stimme der Wahrheit zu folgen. Jeder durfte den Weg gehen, den er für richtig hielt. Jeder durfte auf seine Art den Buddhismus praktizieren. Das nahm der Meister auch für sich in Anspruch. Doch wie entsetzt waren die Schüler, als der Meister auf die Idee kam, sich noch in seinem hohen Alter eine Frau zu wünschen. Und er hatte genaue Vorstellungen von dieser Frau. Alt sollte sie sein. Spirituell fortgeschritten sollte sie sein. Und hässlich sollte sie sein. Der Meister wollte es üben auch im Hässlichen das Licht der Welt zu erkennen. Er erklärte seinen Schülern, dass für ein liebendes Herz alle Menschen schön sind.

In einer Vision hatte der Meister seine Frau auch schon gesehen. Er schickte seine Schüler los diese Frau zu finden. Die Schüler durchstreiften das ganze Land auf der Suche nach einer alten hässlichen Frau. Da gab es viele. Aber die Frau musste auch spirituell weit entwickelt sein. Die Schüler sollten sie an ihrer starken spirituellen Energie erkennen. Und tatsächlich trafen einige Schüler in einer schmutzigen Hütte in der Abgeschiedenheit der Berge auf eine zahnlose alte Frau mit einer krummen Nase, vielen Warzen und einer faltigen Haut. Die Frau bewarf sie Kuhfladen und wollte die Schüler wegjagen. Aber die Schüler spürten bei ihr eine starke spirituelle Präsenz. Die Frau war sehr kraftvoll und energiegeladen. Sie hatte eine Power wie die Göttin Kali. Sie war eine Verkörperung der Vajrayogini. Auch sie hatte jahrzehntelang auf ihre Art spirituell praktiziert und strahlte eine starke Energie aus.

Das spürten die Schüler und baten die Frau ihren Meister kennenzulernen. „Was soll ich in meinem Alter mit einem Mann,“ rief die Frau. „Ich bin froh, dass ich die Ebene der Dualität überschritten habe. Ich will lieber alleine bleiben.“ Die Schüler konnten die Frau nicht überzeugen. Sie berichteten aber ihrem Meister von dem Ergebnis ihrer Suche. Da machte sich der alte Meister sofort auf den Weg zu der Frau. Und als sich beide in die Augen sahen, war da sofort Liebe. Der Energiefunke sprang über. Ohne ein Wort zu sagen verliebten sich beide in sich. Sie merkten, dass das Zusammensein beide glücklicher macht, als wenn sie alleine waren. Also zogen sie zusammen und waren glücklich bis an ihr Lebensende.

Die Schüler fragten, ob es nicht besser ist auf dem spirituellen Weg alleine zu leben. Der Meister antwortete: „Am Anfang braucht man auf dem spirituellen Weg viel Ruhe, damit man gut spirituell vorankommt. Aber irgendwann braucht man ein Gegenüber, an dem man spirituell wachsen kann. Im Buddhismus gibt es den tantrischen Weg. Auf diesem Weg kann die spirituelle Energie verstärkt werden, wenn sich ein Mann energetisch mit einer Frau verbindet. Sexualität kann ein Weg ins Licht und ein Weg in die Dunkelheit sein. Man sollte genau spüren, was man braucht und wie der Weg einer Beziehung beide Menschen ins Licht bringt. Eine spirituelle Beziehung ist eine große Herausforderung. Aber gerade an großen Herausforderungen kann man spirituell sehr wachsen.“ (Tibetische Weisheitsgeschichten)

 

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