Den Tod überwinden

Jorinde und Joringel

Es waren einmal zwei junge Menschen, die liebten einander sehr. Jorinde war eine schöne junge Frau und Joringel war ein schöner junger Mann. Eines Tages gingen sie im Zauberwald spazieren. „Hüte dich, dass du nicht zu nahe ans Schloss kommst, das in der Mitte des Zauberwaldes steht,“ sagte Joringel zu Jorinde. „Was ist mit dem Schloss?“, fragte Jorinde. „Das Schloss gehört der Erzzauberin. Wer dem Schloss zu nahe kommt, der stirbt.“, entgegnete Joringel.

In ihrer Verliebtheit wanderten beide Hand in Hand durch den großen Wald. Sie erfreute sich an dem weichen Moos auf dem Waldboden, den singenden Vögeln und dem Sonnenlicht, das durch die hohen Bäume schien. Dabei vergaßen sie völlig das Zauberschloss. Sie gerieten immer tiefer in den Wald. Es wurde dunkler und dunkler. Und plötzlich stand die Erzzauberin vor ihnen.

Sie verwandelte Jorinde in eine Nachtigall, sperrte sie in einen Käfig und nahm sie mit zu sich in ihr Schloss. Joringel blieb wie erstarrt stehen. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nichts tun. Er konnte Joringel nicht helfen. Erst am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen das Dunkel des Waldes erhellten, fand er wieder zu sich.

Jorinde war tot. Er war wie verrückt voller Trauer. Mühsam fand er seinen Weg aus dem Wald heraus. Was sollte er mit seinem Leben anfangen? Er hatte alle Lebensfreude verloren. Bei einem Bauern nahm er eine Stelle als Schäfer an und hütete viele Jahre lang die Schafe. Da träumte er eines Nachts, dass es eine Möglichkeit gibt Jorinde zu befreien. Er musste die blutrote Blume finden. Wenn er Jorinde mit dieser Blume berührt, wird sie vom Bann der Erzauberin befreit.

Joringel machte sich auf die Suche nach der blutroten Blume. Er wanderte über hohe Berge und durch tiefe Täler. Er erforschte fremde Länder und fragte überall nach der blutroten Blume. Nach einiger Zeit traf er einen alten Mann, der das Geheimnis der blutroten Blume kannte. Er wusste auch, wo Joringel diese Blume finden konnte: „Diese Blume kannst du nur in dir selbst finden. Wenn du neun Tage und neun Nächte ununterbrochen meditierst und an nichts anderes als an die blutrote Blume denkst, wird sie vor dir erscheinen. Besinne dich auf deine Liebe zu Jorinde. Das wird dir die Kraft geben diese neun Tage und neun Nachte auszuharren.“

Joringel setze sich auf einen Felsbrocken, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die blutrote Blume. Nach drei Tagen konnte er sie innerlich sehen. Nach sechs Tagen erschien sie vor ihm in seinem Geist. Und am neunten Tag sah er sie zum Greifen nah vor sich. Er griff zu und hatte die blutrote Blume in seiner Hand. In ihrer Mitte lag ein Tautropfen wie eine große Perle. Das waren die Tränen, die Joringel um Jorinde geweint hatte.

Durch die blutrote Blume verwandelte sich Joringel. Er spürte Licht und Kraft in sich. Er machte sich mit der Blume sofort auf den Weg zum Schloss der Erzzauberin. Nach einigen Tagen erreichte er den Zauberwald. Er ging in den Zauberwald hinein und erblickte nach kurzer Zeit das mächtige Schloss der Erzzauberin. Das Schloss war von einem Bannkreis umgeben. Ohne den Willen der Erzzauberin konnte keiner den Bannkreis betreten. Aber Joringel streckte seine Hand mit der blutroten Blume aus. Und schon öffnete sich der Bannkreis. Er trat durch das mächtige Tor in das kühl wirkende Schloss.

Im Schlosssaal standen siebentausend Käfige mit kleinen Vögeln. Das waren die Seelen der Menschen, die gestorben waren. Auf dem Thron erblickte er die Erzzauberin. Ihre Augen waren kalt, ihre Haare weiß und ihre Haut faltig. Sie trug einen grauen Umhang und hielt in ihrer Hand einen langen Stab. Sie ging auf Joringel zu und wollte ihn mit dem Stab berühren. Dann wäre er auch zu einer Seele geworden und sie hätte ihn in einen Käfig einsperren können.

Aber die Erzzauberin konnte Joringel nichts anhaben. Die blutrote Blume und das Licht in ihm beschützten ihn. Da wandte sich die Erzzauberin um, ergriff einen kleinen Vogelkäfig mit einer Nachtigall und wollte damit entfliehen. Doch Joringel bemerkte ihr Tun. Er rief laut „Stopp“ und berührte den Käfig mit der blutroten Blume. Da öffnete sich die Käfigtür und die Nachtigall flog heraus.

Und als Joringel die Nachtigall mit der blutroten Blume anstupste, da stand seine Jorinde wieder vor ihm. Er hatte sie aus den Klauen des Todes befreit und ihre Seele geheilt. Beide fielen sich glücklich in die Arme. Sie verließen das Schloss der Erzzauberin und lebten lange vergnügt zusammen. Bis die Zeit kam von der Erde Abschied zu nehmen. Auch jetzt half ihnen die blutrote Blume. Mit Hilfe der Blume stiegen sie direkt ins Licht auf. Vorher gingen sie aber noch am Schloss der Erzzauberin vorbei und befreiten die anderen siebentausend Seelen.

Was bedeutet dieses Märchen? Die Erzzauberin ist die Göttin Maya, wie sie im Yoga genannt wird. Sie verzaubert uns mit der Illusion der Materie. Wir denken, dass das materielle Leben alles ist was es gibt. Wir denken, dass das Leben mit dem Tod des Körper zu Ende ist. Aber hinter der Materie gibt es die Welt des Lichts. Wenn wir uns durch unsere spirituellen Übungen von der materiellen Weltsicht befreit haben, können wir das Licht in der Welt sehen, spüren und erfahren. Buddha nennt es Erwachen. Wir erwachen zur wahren Sicht der Dinge. Dann sind wir von der Erzzauberin befreit. Wir leben im Licht und haben das Licht in uns. Der Weg ins Licht ist der Weg der Liebe und der Meditation. Das wussten schon die Verfasser der Zaubermärchen, die erleuchteten Mystiker im Mittelalter. Sie zeigen uns den Weg, damit wir ihn für uns selbst und für unsere Mitmenschen gehen können. Mögen alle Wesen mit der Zauberblume berührt werden. Möge der Weg der Liebe alle Menschen ins Licht bringen.

https://www.youtube.com/watch?v=Cbt0iLO40z8

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