Den Schmerz annehmen – Weg zu einer tiefen Alltagsmystik

Was wäre, wenn wir unseren Schmerz annehmen könnten. Unsere Angst. Unsere Wunden. Wenn wir unsere Kraft, unsere oft gerade angesichts einer schmerzhaften Erfahrung unbändige Kraft in so etwas fließen ließen wie eine Umarmung, anstatt in die Abwehr. Wie unglaublich verändernd wäre das.

Wir können es schon fast nicht mehr hören, weil es uns zu oft zugesäuselt wurde, das: nimm den Schmerz an. Oder das: lass los. Und oftmals bleiben diese Worte hohl, weil uns gerade keine Erfahrung an diesen Ort mitnimmt, an diesen alles entscheidenden Wendepunkt unseres Lebens. Denn bisweilen braucht es wirklich eine tragische Wendung, damit wir endlich kapitulieren. Damit wir uns eingestehen: ich kann nicht weglaufen. Dieser Schmerz ist grösser als ich, er wird mich einnehmen, er ist schneller als ich, er wird mich einholen, er ist stärker als ich, er wird mich brechen.

Oft bleiben uns diese Worte auch hohl, weil wir darin –oftmals zu Recht- eine Falle vermuten. Die Falle, doch nur wieder Schmerz vermeiden zu wollen, Schmerz umgehen zu wollen, glauben zu wollen dass überwunden ist, was quält. Der Mensch ist erfindungsreich, wenn er den Schmerz umgehen will. Bis hin zu dem Punkt an dem er sich komplett verleugnet, in die Dissoziation geht, sich erleuchtet nennt oder egolos oder erwacht, nur um diesen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen, der uns alle irgendwann ereilt, und der alles niederreisst, was Fassade war. In diesem Jahr kursierten Bekenntnisse einiger Satsang-Aussteiger, die genau dies berichteten. In denen gerade lehrende Menschen gestanden: ich habe zehn, zwanzig, dreissig Jahre lang nichts anderes getan als den Schmerz zu umgehen. Hinter meinem Lächeln wähnte ich mich in Sicherheit, und hielt damit nur andere Menschen davon ab, sich ihrem Schmerz zu stellen.

Wir alle sollten aussteigen. Aus der Verleugnung. Aus der Flucht. Aus dem Schönreden. Aus allem glänzenden, lächelnden, rosaumwölkten Treiben, das, wie wir am Grunde unseres Herzens wissen, nichts anderes will als den Schmerz zu umgehen.

Ja, aber sind wir nicht Verlierer, wenn wir uns vom Schmerz besiegen lassen? Wenn wir ihm nicht das schnaubende Streitross unseres Glaubens entgegenstellen? Unser Erwachtsein, das doch munkelt, die Dualität sei eben so? Unsere Schöpferkraft, von der wir glauben sie könne sich schon wieder alles zurechtmanifestieren was schief gelaufen sei weil wir noch nicht reif waren?

Nein, sind wir nicht. Sich vom Schmerz in einem Moment, der alles ist, besiegen zu lassen, ist tiefste, wahrhaftigste Anerkennung dessen, was ist. Dessen, was auf irdischer Ebene ist, und nirgends anders sind wir zu diesem Zeitpunkt. Wenn es Dir unerträglich ist, verlassen zu werden, anerkenne dass es Dir unerträglich ist verlassen zu werden. Wenn Du vor Trauer fast den Verstand verlierst, weil jemand den Du liebtest gestorben ist, anerkenne, dass Du vor Trauer fast den Verstand verlierst. Wenn Du vor Angst besinnungslos bist, anerkenne dass Du vor Angst besinnungslos bist. Es führt kein Weg vorbei an dieser Bejahung. An diesem Moment, in dem Du entscheidest anzuerkennen, dass es eben so ist.

Und wenn Du so aufrichtig in Deiner Wahrnehmung bist, und vergiss nicht, dass Deine Wahrnehmung alles ist – der Ort und die Form, in der sich der Lebensstrom, nennen wir ihn Gott, ereignet – dann wirst Du erfahren, dass dieser Schmerz nicht alles ist. Dann wirst Du feststellen, dass dieser Schmerz, der auf irdischer Ebene alles ist, der im Moment Deinen ganzen Raum einnimmt, auf einer absoluten Ebene, die Dir ebenso als Seinsraum zugänglich ist, nicht alles ist.

Ich spreche hier über mystische Erfahrung. Über die Erfahrbarkeit des Göttlichen, des Ewigen, des Absoluten. Man mag über diese mystische Erfahrung denken, dass sie allein Gnadengeschenk ist und dass sie kommt wann sie will. Ich bin aber überzeugt, dass der Moment, in dem wir die raumgreifende Präsenz des Schmerzes anerkennen, ein Schlüssel ist, der diesen Raum zu öffnen vermag.

Wenn Du die mystische Erfahrung suchst um einen Bogen um das Schmerzhafte zu machen, wird sie sich Dir verschließen bis Dir Geduld und Spucke ausgehen. Oder Du wirst Dich von High zu High tragen, bis Du bemerkst, dass Du Dich mehr und mehr vom Leben entfernst um ein Dasein in einem wattierten Paralleluniversum zu fristen. Das Absolute zu erfahren, ist nur durch Anerkennung des Relativen möglich.

Wenn Du vom Absoluten kosten darfst, wirst Du merken, dass das Irdische nicht weniger schmerzhaft wird. Ganz im Gegenteil wird der Schmerz grösser, eben weil Du tiefer in differenziertes Empfinden hinabsteigst, und eben weil du tiefer Anteil nimmst an den Wunden der Schöpfung. Das was Du früher noch desinteressiert abnicktest als „Das ist eben so“, bohrt sich dann schmerzlich in Deinen Erfahrungshorizont: das Unrecht auf der Welt, der Hunger, die Gewalt, ja noch ein respektloses Gespräch in der U-Bahn oder die Blume am Wegesrand, der ein wütendes Kind den Blütenkelch abgeschlagen hat. Und Deine Verbindung zu all dem, Deine Verantwortung in all dem. Mystiker werden zunächst immer dünnhäutiger, und krümmen sich unter dem vermeidbaren Leiden der Welt, unter den Grausamkeiten, die wir Menschen salonfähig gemacht haben bis zu dem Punkt an dem sie uns gar nicht mehr als solche auffallen.

Gleichzeitig wächst im Mystiker die Wahrnehmung des Lebensstroms heran, der in seiner Schönheit vollkommen ist, selbst noch angesichts der Wirrungen unter Menschen, selbst noch angesichts der Vergänglichkeit und des Sterbens, und der überall und zu jeder Zeit gegenwärtig ist. Wenn Du in diesem Prozess bist, dann wirst Du immer öfter Momente erleben, in denen beides zur selben Zeit gegenwärtig ist: das Schmerzliche, und das ewig ungebrochen Schöne und Vollkommene. Und das beides gleichzeitig zu erleben, und auszuhalten dass das Unliebsame sich durch die Präsenz des Absoluten nicht einfach in Wohlgefallen auflöst, das ist eine Kunst, die wir erlernen müssen. Der Schrecken des Todes ist in das ewige Leben gebettet. Beides siehst Du. Das ist Alltagsmystik, das ist Anerkennung der uns zugänglichen Wirklichkeiten und das Wachsen und Reifen daran. Etwas in uns reift dann auch dazu heran, die Endlichkeiten, das Scheitern, die vielen kleinen und großen Kümmernisse des Alltags mit einer neuen Würde, Kraft und auch Gelassenheit zu tragen.

Es hilft nicht, dem Schmerz vorwegnehmend einen Sinn aufzuschwatzen, wie wir das immer tun wenn wir sagen: „Wer weiss, wofür es gut ist“, oder „Das hat meine Seele sich so ausgesucht“. In den Momenten, in denen die raumgreifende Präsenz von Schmerz gleichzeitig mit der Vollkommenheit und Urteilslosigkeit des Absoluten in mir zugegen ist, in diesen Momenten allein kann ich von ganzem Herzen sagen: ja, Schmerz, Du bist mein Lehrer. Oder: Du bist mein Freund. Oder: Du bist in diesem Moment meine Kraft der Veränderung. Mein Wake-up-call oder der Erwecker meiner Gaben. Der dunkle Schoß, aus dem ich neu geboren werden darf.

Also erneut die Frage: Was wäre, wenn wir unseren Schmerz annehmen könnten. Unsere Angst. Unsere Wunden. Wenn wir unsere Kraft, unsere oft gerade angesichts einer schmerzhaften Erfahrung unbändige Kraft in so etwas fließen ließen wie eine Umarmung, anstatt in die Abwehr. Wie unglaublich verändernd wäre das.

***Ich weise darauf hin, dass ich in diesem Text Menschen ohne schwerwiegende psychische Erkrankungen adressiere.

(Giannina Wedde/KLANGGEBET, www.klanggebet.de)

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