Es war einmal ein kleines Schneiderlein, das schaffte es mit der Fliegenklatsche sieben Fliegen auf einmal zu erschlagen, die sich auf sein leckeres Pflaumenmusbrot gesetzt hatten. Zwar spritzte dabei das Mus in alle vier Himmelsrichtungen, aber das Schneiderlein war sehr stolz auf seine Heldentat: „Ich bin so ein kleiner Mensch, so schwach, so unbedeutend. Trotzdem kann ich sieben Fliegen auf einmal besiegen. Ich werde es allen Menschen verkünden.“

Das Schneiderlein stickte auf seinen Gürtel den Spruch „Siebene auf einen Streich.“ Als die Leute diesen Spruch lasen, dachten sie, das Schneiderlein hätte sieben Menschen auf einen Streich erschlagen. Sie hielten ihn für einen großen Kriegsheld. Das stieg dem Schneiderlein zu Kopf. Es verließ seine Werkstatt und zog in die weite Welt hinaus, um sein Glück zu versuchen. Das Schneiderlein glaubte an sich selbst. Es wusste zwar, dass es von seiner Körperkraft eher schwach war. Aber es hatte einen schnellen Verstand. Und dadurch würde es in seinem Leben siegen.

Voller Optimismus wanderte das Schneiderlein durch Berg und Tal, durch Wiesen und Wälder, bis es zu einem fernen Königreich kam. Der König suchte dringend einen Kriegshelden. Sein Reich wurde von zwei Riesen bedroht, die in einem nahen Wald lebten. Der König versprach dem Schneiderlein seine Tochter zur Frau und sein halbes Königreich dazu.

Das Schneiderlein glaubte immer noch an sich selbst und nahm gerne das Angebot an. Es ging in den Wald und betrachtete erstmal genau die Riesen. Dabei stellte es fest, dass sie Riesen zwar sehr stark, aber gleichzeitig auch sehr dumm waren. Als die Riesen schliefen, kletterte das Schneiderlein auf einen Baum über ihnen und warf ihnen von oben herab Steine auf den Kopf. Die Riesen dachten, dass der jeweils andere sie ärgern wollte. Im Laufe der Zeit wurde ihre Wut so groß, dass sie sich gegenseitig erschlugen.

Freudestrahlend und mit stolz geschwellter Brust kam das Schneiderlein wieder zum König und verlangte den versprochenen Lohn. Da das Schneiderlein aber gar zu mickrig aussah, wollte der König ihm doch nicht so gerne seine Tochter zur Frau geben. Der König verlangte von dem Schneiderlein eine zweite Aufgabe zu lösen.

Im königlichen Wald lebte außer den Riesen noch ein wildes Einhorn, dass auf den Feldern der Bauen viel Schaden anrichtete. Keine traute sich in den Wald, weil alle Angst hatten, dass das Einhorn sie mit seinem Horn aufspießt. Nur das Schneiderlein war mutig und vertraute wieder auf seine Klugheit. Es stellte sich vor einen großen Baum. Als das Einhorn mit voller Wucht auf es zugerast kam, da sprang das Schneiderlein schnell zur Seite und das Einhorn rammte sein Horn in den Baum. Jetzt steckte es fest und konnte leicht gefangen werden.

Dem König genügte auch diese Heldentat nicht. Er verlangte von dem Schneiderlein, dass es auch noch das gefährliche Wildschwein fängt. Das Wildschwein war so wütend und leicht zu reizen, dass sogar die königlichen Jäger vor ihm Angst hatten. Wenn sie das Wildschwein mit seinen großen Hauern und seinem massiven schwarzen Körper erblickten, flüchtete die Jäger sofort in großer Panik. Keine traute sich dem Wildschwein zu nähern, weil es gar zu wild war.

Das Schneiderlein trat mutig in den Wald. Das Wildschwein kam auch sofort angerast. Voller Panik flüchtete das Schneiderlein in eine Kapelle, die in der Mitte des Waldes stand. Das Wildschwein folgte dem Schneiderlein in das Gotteshaus. Aber da sprang das Schneiderlein schnell zum Fenster heraus und verschloss von außen die Tür. Das Wildschwein war gefangen und endete als Schweinebraten.

Der König konnte dem Schneiderlein jetzt nicht mehr die Hand seiner Tochter verweigern. Der Schneider bekam die Prinzessin zur Frau. Es wurde eine große Hochzeit gefeiert. Aber wirklich glücklich war die Prinzessin mit dem Schneiderlein nicht. Er war ihr gar zu mickrig und benahm sich auch nicht adlig. Er gestand ihr sogar, dass er in Wirklichkeit ein armer Schneider gewesen war. Da überlegte die Königstochter, wie sie ihren Gemahl wieder loswerden konnte.

Sie heuerte zwei Mörder an, die das Schneiderlein des Nachts im Schlaf umbringen sollten. Die Königstochter berichtete ihrem Vater von dem schrecklichen Plan und der war damit einverstanden. Einen mickrigen Schneider wollte er nicht zu seinem Nachfolger haben. Zum Glück lauschte jedoch ein Diener des Königs bei diesem Gespräch und verriet das böse Vorhaben dem Schneiderlein. Der Diener war der Meinung, dass die kleinen Leute gegen die Mächtigen zusammenhalten sollten.

In der Nacht, in der er umgebracht werden sollte, tat der kleine Schneider so, als ob er schliefe. Als die Mörder dann in sein Gemach eintreten wollten, rief er laut: „Ich habe zwei Riesen getötet, ein Einhorn gefangen und ein mächtiges Wildschwein überlistet. Wie könnte ich mich da vor zwei dummen Bösewichten fürchten, die glauben mich besiegen zu können.“ Die beiden gedungenen Mörder sahen sich ertappt und flüchteten in großer Panik. Die Königstochter erkannte, dass sie ihrem Gatten geistig unterlegen war und achtete trotz seiner geringen Körpergröße als klugen Herrscher. Seine Stolz legte das Schneiderlein im Laufe der Zeit ab. Es brauchte nicht mehr mit seinen Heldentaten anzugeben, weil es von allen Menschen um sich herum geachtet, geliebt oder gefürchtet wurde.

Was sagt uns diese Geschichte? Auch Kleine können siegen, wenn sie Optimismus mit Mut und Weisheit verbinden. Auch Mickerlinge können das spirituelle Ziel erreichen, wenn sie nach einem klugen Plan vorgehen und mit Ausdauer ihren Weg gehen.

Die Riesen symbolisieren die weltlichen Energien in einem Menschen. Um zur Erleuchtung zu gelangen, müssen wir Gier, Sucht, Hass und Angst in uns überwinden, Wir dürfen an keinen äußeren Genüssen anhaften Leidsituationen nicht ablehnen. Wir müssen die Dinge so annehmen wie sie sind und bei allem äußeren Geschehen unseren inneren Frieden bewahren.

Wenn uns das gelingt, dann lösen sich unsere inneren Verspannungen auf, die spirituelle Energie beginnt zu fließen und wir erlangen innere Kraft und spirituelle Erkenntnis. Das Einhorn in uns erwacht. Wenn wir die spirituellen Energien lenken und zähmen können, dann werden wir zu einem Buddha, einem goldenen König. In der mystischen Hochzeit vereinigen wir uns mit der Welt um uns herum. Das Wildschwein, das Ego in uns stirbt. Wir erfahren die Welt um uns herum als heiligen Ort. Es ist als ob wir in einer Kirche, in einem heiligen Raum, leben. Auch ein äußerlich mickriger Schneider kann den König in sich erwecken.

Allerdings ist unser inneres Glück immer noch bedroht. Wir müssen beständig achtsam auf unsere Gedanken und Handlungen sein. Wir sollten genau in uns hinein horchen und rechtzeitig erkennen, wenn weltliche Energien drohen uns aus unserem spirituellen Königreich herauswerfen wollen. Auch nach der Hochzeit müssen wir unsere Ehe pflegen, damit wir dauerhaft in der Liebe und im Glück leben können.

https://mystiker2.wordpress.com/2021/10/12/das-spirituelle-marchenbuch-die-schonsten-marchen-und-ihre-bedeutung/#28

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