Ausdauer auf dem spirituellen Weg

Die sechs Schwäne

Es war einmal ein König, der hatte sechs Söhne. Bei der Geburt seines siebten Kindes, eines Mädchens, starb die Königin. Also musste der König seine sieben Kinder alleine groß ziehen.

Eines Tages verirrte sich der König bei der Jagd in einem großen Wald. Er konnte alleine nicht wieder aus dem Wald heraus finden. Da stand plötzlich eine alte Hexe vor ihm. Der König bat sie: „Kannst du mir den Weg aus dem Wald heraus zu meinem Schloss zeigen?“ Die Hexe wackelte mit dem Kopf und antwortete: „Gerne zeige ich dir den Weg aus dem Wald heraus, lieber König. Es gibt aber eine Bedingung. Du musst meine Tochter heiraten.“

Die Hexe brachte den König zu ihrer Hütte. Da die Tochter sehr schön war, hatte der König gegen eine Heirat nichts einzuwenden. Ihm fehlte ohnehin eine Frau. Allerdings merkte er, dass mit der Tochter irgendetwas nicht stimmte. Etwas Böses ging von ihr aus. Das lag vermutlich daran, dass sie die Tochter einer Hexe war. Der König kannte den Spruch, dass man sich die Mutter ansehen sollte, wenn man ihre Tochter zur Frau nehmen will. Er hoffte aber, dass sich alles zum Guten wenden würde.

Aus Vorsicht brachte er seine sieben Kinder jedoch an einem versteckten Ort unter, damit ihnen ihre Stiefmutter nichts antun konnte. Dieser Ort war so versteckt, dass selbst der König nur mit einem Garnknäuel hingelangen konnte, das die wunderbare Eigenschaft hatte, ihm den Weg zu zeigen. Er brauchte das Knäuel nur auszuwerfen. Und beim Abrollen rollte es immer in die richtige Richtung. Der König dachte, dass jetzt seine Kinder geschützt sind.

Er heiratete die schöne Tochter der Hexe und besuchte alle paar Tage seine Kinder. Seiner neuen Frau erklärte er, dass er in den Wald gehe um dort zu meditieren. Nach einiger Zeit wurde die Frau neugierig und befahl einem Diener, dem König nachzuspionieren. Der Diener entdeckte, dass der König mittels eines Garnknäuels seine Kinder besuchte.

Die böse Stiefmutter war tatsächlich eine Hexe. Sie nähte Zauberhemden, um die Kinder zu verzaubern. Als der König unachtsam war, entwendete sie ihm das Garnknäuel und machte sich damit auf den Weg zu den Kindern. Die Kinder des Königs sahen in der Ferne eine Gestalt auf sie zukommen. Sie dachten, es wäre ihr lieber Vater. Die sechs Söhne rannten freudig auf die Gestalt zu. Wie erschraken sie, als die Gestalt sich als die böse Stiefmutter entpuppte und sechs Zauberhemden über sie warf. Daraufhin verwandelten sich die sechs Söhne in Schwäne und flogen davon. Die Stiefmutter lachte bösartig und ging zufrieden davon.

Sie wusste aber nicht, dass der König auch noch eine Tochter hatte. Seine Tochter war sittsam im Haus geblieben, als ihre Brüder der Stiefmutter entgegen rannten. Sie hatte aus dem Fenster das Geschehen beobachtet. Als ihr Vater am nächsten Tag zu Besuch kam, berichtete sie ihm von der schrecklichen Tragödie.

Sie beschloss ihre Brüder zu retten. Der König gab ihr das Garnknäuel, damit sie den Weg finden konnte. Sie packte etwas zu essen in einen kleinen Rucksack und machte sich auf die Suche nach ihren Brüdern. Das Garnknäuel führte sie zuerst durch den Wald und dann zu einem großen See, an dem eine einsame Jagdhütte stand. In dieser Jagdhütte fand sie ihre sechs Brüder. Sie fragte: „Wie kann ich euch erlösen?“ Die Brüder antworteten: „Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen. Während dieser Zeit musst du sechs Hemden aus Brennnesseln nähen. Wenn die Hemden fertig sind, dann musst du sie über uns werfen und der Zauber der bösen Stiefmutter löst sich auf.“ Die Schwester wohnte ab jetzt bei ihren Brüdern. Die sechs Brüder konnten aber jeden Tag nur kurz ihre menschliche Gestalt annehmen. Den Rest der Zeit mussten sie als wilde Schwäne umher fliegen.

Die Schwester begann sofort mit der Herstellung der sechs Hemden. Sie sammelte Brennnesseln, trocknete sie und stellte Fäden her. Daraus strickte sie sechs Hemden. Sechs Jahre waren eine lange Zeit. Vor allem ging es darum, dass sie sich selbst innerlich reinigte, damit sie spirituelle Energie entwickeln und so Zauberhemden herstellen konnte. Sie meditierte deshalb viel, sammelte Nahrung und verbrachte die restliche Zeit mit stricken.

Die Jahre vergingen. Nach fünf Jahren kam ein junger König durch den Wald geritten. Er war auf der Jagd und erblickte dabei die Schwester. Aus Angst flüchtete sie auf einen Baum. Der König fragte: „Was macht eine so schöne Frau hier alleine im Wald auf einem Baum?“ Da sie nicht sprechen durfte, warf sie zuerst ihre goldene Halskette, dann ihren Gürtel und zum Schluss ihr Strumpfband herunter. Daraus zog der junge König den Schluss, dass sie seine Frau werden wollte.

Da sie sehr schön war und eine Ausstrahlung von Glück hatte, nahm er sie mit auf sein Schloss und heiratete sie. Weil sie nicht sprechen konnte, konnte sie nichts dagegen einwenden. Sie nahm die Dinge wie kamen und floss einfach nur mit dem Leben. Wenn das Schicksal wollte, dass sie heiratet, dann sollte es so sein. Sie konzentrierte sich auf die Rettung ihrer Brüder und auf die Fertigstellung der sechs Hemden.

Den jungen König störte es nicht, dass seine Frau nicht sprach. Im Gegenteil empfand er es als sehr angenehm. Frauen neigen manchmal dazu zu viel zu reden. Das Problem hatte der junge König nicht. Aber die anderen Menschen am Hof betrachteten die junge Königin mit kritischen Augen. Warum sprach sie nicht? Warum strickte sie immer an den sechs Hemden aus Brennnesseln? Vielleicht war sie ein Hexe?

Vor allem der Mutter der jungen Königs gefiel die Heirat nicht. Sie dachte, dass die junge Königin eine einfache Frau vom Land ist. Sie wünschte sich für ihren Sohn eine Frau aus den Adelskreisen. Also überlegte sie, wie sie die junge Königin beseitigen konnte. Da kamen ihr die Gerüchte gerade recht, dass die junge Frau eine Hexe sein sollte. Als sie nach neun Monaten ihr erstes Kind bekam, stahl böse Mutter des Königs das Kind aus dem Kinderbett, schmierte der jungen Königin Blut um den Mund und behauptete, sie hätte ihr Kind gefressen. Die Leute im Palast forderten darauf hin vom jungen König, dass er seine Frau als Hexe verbrennt.

Der junge König war inzwischen selbst verunsichert. Er gab deshalb dem Verlangen nach und ließ einen Scheiterhaufen errichten. Als die junge Königin auf den Scheiterhaufen gebracht und das Feuer entzündet wurde, waren gerade die sechs Jahre des Schweigens um. Die sechs Hemden waren bis auf einen Ärmel fertig gestellt. Am Himmel tauchten die sechs Schwäne auf. Die junge Königin warf die sechs Hemden über sie und aus den sechs Schwänen wurden wieder ihre sechs Brüder. Der jüngste Bruder hatte aber statt seines linken Armes einen Schwanenflügel. Er behielt etwas von seiner tierischen Natur.

Jetzt durfte die junge Königin wieder sprechen. Sie stellte die Dinge richtig: „Ich bin keine Hexe, sondern meine Schwiegermutter hat meine Brüder verhext. Um meine Brüder zu retten, musste ich sechs Jahre schweigen und sechs Hemden aus Brennnesseln nähen. Damit konnte ich sie von dem Fluch befreien. Die Königinmutter hat das Kind entwendet.“

Der junge König atmete auf. Er liebte seine Frau und war froh, dass sich alles zum Guten gewendet hatte. Er verbannte seine Mutter aus dem Palast, damit sie nicht weiterhin Schaden anrichtet. Das Kind wurde zurückgeholt. Es lebte zum Glück noch und befand sich in der Obhut eines Dieners. Aus Dankbarkeit feierten sie ein großes Fest, zu dem auch der Vater der sechs Prinzen und der jungen Königin eingeladen wurde. Er hatte sich inzwischen von der Stiefmutter getrennt. Er war sehr glücklich, dass er seine Kinder zurück hatte. So waren zum Schluss alle froh und glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.

Dieses Märchen beschreibt den Weg eines Bodhisattvas, wie er im Buddhismus genannt wird. Im Yoga spricht man von einem Karma-Yogi, der die Liebe zum Zentrum seines spirituellen Weges gemacht hat. Grundsätzlich sollte ein Bodhisattva zuerst sich selbst retten, bevor er seine Mitmenschen rettet. Wenn man selbst nicht erleuchtet ist, ist es schwierig seinen Mitmenschen den Weg der Erleuchtung zu erklären. Es ist aber auch möglich, dass beides gleichzeitig geschieht. Man kann gleichzeitig an der eigenen Erleuchtung arbeiten und als Karma-Yogi leben.

Das tat die junge Königin. Sie praktizierte den Weg des Schweigens, der im Yoga Mauna genannt wird. Durch die Meditation entsteht viel innere Energie und durch das Schweigen kann man sie bewahren. Es gibt auch den Weg wenig zu reden und sich auf das Notwendige zu beschränken. Erleuchtung entsteht, wenn die spirituelle Energie durch die spirituellen Übungen immer mehr anwächst. Irgendwann gibt es einen Bewusstseinsumschwung und der Mensch lebt im Licht. Das geschieht in diesem Märchen nach sechs Jahren. Auch Buddha brauchte sechs Jahre bis zur Erleuchtung.

Im Märchen rettet das Mädchen seine Brüder und dadurch gleichzeitig auch sich selbst. Alle kommen gleichzeitig zur Erleuchtung. Auf dem Weg des Karma-Yoga verwandelt man sich selbst, indem man die Liebe in die Welt bringt und seine Mitmenschen spirituell rettet. Wenn man allen Wesen Licht und Liebe gibt, dann kommt man dadurch selbst ins Licht. Das Mädchen ist in Wirklichkeit eine spirituelle Heldin. Sie hat ihr Leben der Rettung aller Wesen gewidmet. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Das Mädchen wünscht eine glückliche Welt und trägt das ihr Mögliche dazu bei.

Auf dem spirituellen Weg braucht man Ausdauer. Man muss konsequent an seinen Gedanken arbeiten und intensiv meditieren. Das Märchen lehrt uns neben dem Weg der Liebe auch die Ausdauer auf dem spirituellen Weg. Sechs Jahre sind für die Erleuchtung eine eher kurze Zeit. Im Yoga werden zwölf Jahre des intensiven spirituellen Übens als normale Zeit angesehen. Auch bei unseren germanischen Vorfahren war eine spirituelle Lehrzeit von zwölf Jahren vorgesehen. Letztlich ist der Zeitraum individuell. Wichtig ist es nur bis zum spirituellen Erfolg auf seinen Weg zu bleiben. Egal, wie lange das dauern mag. Wenn wir einen erleuchteten Meister oder eine Meisterin haben, werden mit Sicherheit eines Tages das Ziel erreichen.

Das Zentrum des Märchens ist das Garnknäuel. Wir müssen auf unsere innere Stimme hören, wenn wir den für uns richtigen spirituellen Weg finden wollen. Wir müssen spüren, was uns in unserem Leben glücklich macht und was uns unglücklich macht. Erleuchtung ist ein Weg des inneren Friedens und Glücks. Wir können von anderen Menschen lernen und uns von ihnen spirituell helfen lassen, aber letztlich müssen wir den Weg unserer eigenen Wahrheit gehen. Nur so kommen wir zum Ziel der spirituellen Selbstverwirklichung. Den Weg können wir nur in uns selbst finden. Darauf weisen uns die Märchen immer wieder hin.

https://www.youtube.com/watch?v=Gw-aTDrDIig

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