Liebes Forum,

als neugierigier Yogi auf der Suche nach besserem Verständnis vom achtfachen Pfad habe ich sofort zugegriffen, als ich das erste Mal auf Sukadev Bretz' allerneustes Buch, "Das große Yoga Vidya Pranayama Buch" in meiner Universitätsbibliothek stieß. Das Buch, erst dieses Jahr erschienen, ist ohne Frage sehr detailliert, bietet viel Hintergrundwissen und spricht Anfänger bis Gebübte gleichermaßen an.

Ein problematischer Punkt bei meinen Yogarecherchen ist aber immer dann erreicht, wenn ich auf etwas stoße, in dem sich die Koryphäen des Fachs anscheinend gegenseitig wiedersprechen. Das Thema der Wirbelsäulenatmung, der drei zentralen Nadis - Ida, Pingala, Shushumna - ist so ein Thema. In Bretz' Buch scheint die Ansicht vorzuherrschen, dass Puraka, also Einatmung, die Energie nach unten, Richtung Muladhara-Chakra zu befördern scheint, während Rechaka, die Ausatmung, die Energie nach oben fließen lässt.So was schreibt er dann u.a. im Kapitel über die Shushumna-Aktivierungsatmung, 2. Schritt, Energielenkung: "Beim Einatmen stelle dir vor, Energie strömt von außen zur Stirn, von der Stirn zur Mitte des Kopfes und durch die Wirbelsäule hinunter bis zum unteren Ende der Wirbelsäule". Und eben anders herum bei der Ausatmung.

Ähnliches habe ich übrigens auch in Anna Trökes' Buch zur Yoga-Meditation gelesen, Abschnitt "Meditationsformen der Trika-Schule des Kaschmir-Sivaismus". Auch da ist die Rede davon, dass man den Weg der Energie mit dem Weg des Atems, der Luft an sich, gleichsetzen soll, also Einatmen = hinab, Ausatmen = hinauf.

Nun scheint es aber ein zweites Lager zu geben, wonach es genau anders herum läuft: Dass Energie dann eher aufsteigt, wenn man einatmet, und absinkt, wenn man ausatmet.

Dazu gehört u.a. auch Ralph Skuban. In seinem Buch "Yoga Meditation", Kapitel Wirbelsäulenatmung, vertritt er die andere These. Ich zitiere: "Sie beobachten nur den Energiefluss parallel zur Atmung: Mit der Einatmung nach oben... mit der Ausatmung nach unten... vom Beckenboden zur Krone des Kopfes ... und von der Krone des Kpfes zurück zum Beckenboden. Da mag sich Widerspruch regen: Fühlen Sie den Atemstrom nicht umgekehrt? Ist es nicht so, dass bei der Einatmung die Luft nach unten in die Lungen hineinströmt und bei der Ausatmung wieder zurück nach oben, also genau andersherum, als es diese Übung vorsieht? Ja, das ist richtig, doch darauf kommt es hier nicht an, denn energetisch betrachtet, verhält es sich beim Atmen umgekehrt. Das spiegelt sich in der Atembewegung des Körpers: Wenn Sie Ihren rumpf genau beobachten, werden Sie feststellen, dass er bei der Einatmung einen Impuls nach oben erhält, und bei der Ausatmung - dem Loslasssen - wieder nach unten sinkt:

Auch die Yogalehrer, bei denen ich bislang immer live im Unterricht war, scheinen die letztere Theorie zu unterstützen: Wenn ein Lehrer zum Beispiel mit uns einige Runden Kapalabhati mit uns macht, uns dann einmal tief ausatmen lässt, und wir anschließend beim Kommen des Atemimpulses tief einatmen sollen, sagt er auch immer, dass die Energie hoch in den Kopf strömt.

Interessanterweise scheinen solche Widersprüche bei den Bandhas nicht vorzuliegen: Da scheinen sich alle einig zu sein, dass sowohl Mula- als auch Uddiyana-Banda die Energie nach oben drücken bzw. ihren Abfluss nach unten verhindern. Warum kann es dann diese Eindeutigkeit auch nicht beim Atem selbst geben?

Was ist in dieser Sache also hier die absolute, eindeutige, objektive Wahrheit? Widersprechen sich die Autoritäten? Oder übersehe ich etwas ganz Grundlegendes, bei dem Ihr mir vielleicht helfen könnt? Ich wäre sehr dankbar.

Namasté,

Benjamin

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  • Hari Om lieber Benjamin,

    das ist eine interessante Frage, die schon viele Yogis und auch mich beschäftigt hat. Tatsächlich ist es aber weniger ein "entweder oder" als ein "sowohl als auch". 

    Energetisch wie auch physiologisch gibt es bei der Einatmung Prozesse die abwärts, als auch Prozesse die aufwärts strömen. Wobei erstere wohl dominant sind. Sowohl bei Sukadev als auch in der Satyananda-Tradition habe ich gelernt, dass man auf beide Strömungen meditieren kann, je nach Präferenz, oder für Flexibilität auch mal im Wechsel. 

    Beim Kapalabhatti ist es üblich die Energie im Kopf zu sammeln und es ist naheliegend dies in der längsten Haltephase, also nach der Einatmung zu tun. 

    Bei den Bandhas ist es eindeutig, dass die Energie nach oben gelenkt wird. 

    Wie so oft sind Prozesse des Energiekörpers hier nicht deskriptiv sondern präskriptiv. Es geht also nicht darum, eine objektive einzige Wahrheit zu beschreiben, sondern eine bestimmte Praxis für bestimmte Effekte zu nutzen. Daher können auch die genauen Standorte der Chakras und Nadis zwischen Traditionen ruhig variieren, ohne dass jemand "falsch" liegt. 

    Om Shanti,

    Raphael

    (Yoga- und Ayurvedatherapeut bei Yoga Vidya Bad Meinberg)

  • Hallo,

    danke für die Antworten.

    Ich hatte geahnt, dass es am Ende auf individuelles Empfinden hinausläuft. Es geht mir hier darum, dass ich auch schon eine Yogalehrer-Ausbildung absolviert habe und nicht möchte, dass durch falsche Anleitungen meinerseits mal jemand bei Pranayama zu Schaden kommt. Wenn es aber in der Hinsicht, ob man Energie beim Einatmen aufwärts oder abwärts visualisieren soll (und umgekehrt beim Ausatmen), so oder so ungefährlich ist, kann ich das akzeptieren.

     

    Namasté

  • Ich kenne die absolute Wahrheit nicht.

    Bei dem körperlichen Vorgang ist es eindeutig: die Atemluft strömt von oben nach unten in die Lunge ein und nach oben wieder aus.

    Die Energie, um die es dir ja hier geht, fließt nach meiner Erfahrung umgekehrt. Ein- und Ausatmung entsprechen für mich Spannung und Entspannung, Heben und Senken, auf und ab, wie bei einer Welle. Auch bei Satyananda (Bihar-Yoga) wird es auf diese Weise gelehrt. Wenn es aber jemand anders empfindet, kann man nichts machen, dann ist es für den eben anders. Es wird sehr viel mit Vorstellungen, Imaginationen gearbeitet und geübt. Wenn man das lange genug macht, kann (fast) alles stimmig erscheinen.

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